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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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verehrte, übernahm er die Eigenart, sich einen Ton in einem hüpfenden di-dam zu holen und zwischen zwei Phrasen über die chromatische Tonleiter hinunter zu tanzen wie Fred Astaire über eine Treppe in die Arme von Ginger Rogers, nur etwa viermal so schnell. Hawkins Tenorsax inspirierte ihn außerdem zu Soli auf den Bässen der Contragitarre, wobei er, um nicht nur eine nach der anderen frei zu zupfen, mit der Hülle eines Lippenstifts über die Saiten fuhr, eine Technik, von der ihm ein schwarzer amerikanischer Soldat erzählt hatte, daß sie die Bluesgitarristen im Mississippidelta gern anwendeten (was auf der Contra allerdings erst einen Effekt erzielte, wenn er das Instrument nahe am Mikrophon spielte). So hat er es immer gehalten; wenn ihn einer über Musik hätte reden hören, und er hätte ihn nicht näher gekannt, er wäre wohl zur Ansicht gekommen, mein Vater interessiere sich für alles, nur nicht für die Gitarre. Ich erinnere mich an seine Thelonius-Monk-Phase; ich lernte gerade das kleine Einmaleins, als er, stöhnend, grunzend, fluchend und hysterisch schreiend, in unserer Küche in der Penzingerstraße saß und sich ärgerte, weil ihm die Töne zu unverletzt kamen, er aber auf der Gitarre spielen wollte (längst nicht mehr auf seiner alten Contra, sondern auf der wunderschönen, waldhonigfarbenen Gibson, die ihm Carl, wie er sagte »mit einem lachenden und einem weinenden Ohr« geschenkt hatte), daß es klänge wie Monk auf dem Klavier, nämlich so, als wäre er, wenn er einen Ton anschlug, noch von dem vorangegangenen so überrascht, daß er auf den folgenden nicht achten könnte und seine Finger nur eine Aufgabe hätten, nämlich zu korrigieren, immer wieder zu korrigieren, von Ton zu Ton, weswegen sich jedes Stück am Ende anhörte, als hätte es sich selbst geschrieben, und zwar zu keinem größeren als des Musikers Erstaunen. »Nie klingt ein Ton schöner, als wenn er zum erstenmal erklingt«, sagte er. »Es müßte einen Anfänger geben, der gut spielen kann.« In gewisser Weise war er ein solcher. Und genau das war es, was die »Fachwelt« begeisterte. – Und genau darauf hatte Carl im Vorwort zu seinem Interview – dem ersten und letzten in seinem Leben – besonderen Wert gelegt.
    Bis zum Herbst 1948 war Georg Lukasser mit seiner Contragitarre das unangefochtene Genie der Wiener Jazzszene. Dann kam Attila Zoller aus Ungarn. Vielleicht hatte sich das Publikum an dem eigenwilligen Sound meines Vaters ja schon satt gehört; die große Neugierde jedenfalls galt nun Attila. (Ich darf ihn so nennen, schließlich hat er mir feierlich das Du angeboten; ich war sechs, und er tat, als wäre ich ein Kollege. Viele Jahre hatte es gedauert, bis sich die beiden versöhnten und Freunde wurden, was zu hundert Prozent auf Attilas Konto ging; zusammen gespielt haben sie freilich nie, privat nicht und öffentlich schon gar nicht. Nachdem sich mein Vater im April 1976 das Leben genommen hatte, schrieb Attila einen mitfühlenden Brief an meine Mutter und mich. Während meiner Zeit in Amerika besuchte ich ihn in seinem Haus in Townshend, Vermont, und ich traf dort einen der liebenswürdigsten Menschen, die mir in meinem Leben begegnet sind. Vor einem halben Jahr kaufte ich eine CD von ihm – Attila Zoller. Solo Guitar. Lasting Love –, sie ist 1997 aufgenommen worden, also ein Jahr vor seinem Tod. Die dritte Nummer trägt den Titel Struwwelpeter . Mein Herz hat sich zusammengekrampft – »Struwwelpeter« war der Spitzname meines Vaters, Attila hat ihn aufgebracht. Ich hätte gern Carl angerufen und ihm das Stück am Telefon vorgespielt. Er hätte gesagt: Es ist eine ironische Verbeugung vor der rhetorischen Gitarrenkunst von Georg Lukasser; und ich hätte hinzugefügt: der genau so, wie wenn er mit dem Mund redete, auch auf der Gitarre vom Hundertsten ins Tausendste kam; aber Carl hätte das letzte Wort gehabt: nur mit dem Unterschied, hätte er gesagt, daß er auf der Gitarre immer wieder zum Ausgangspunkt zurückfand.) Der Besitzer des Embassy-Club empfahl meinem Vater, sich ein halbes Jahr lang rar zu machen. »Was hält dich hier?« sagte er. »Fahr in die Staaten, dort ist Platz für viele gute Gitarristen.« Hätte er ihm ein halbes Jahr vorher diesen Vorschlag unterbreitet, wer weiß, womöglich hätte sich mein Vater über Carl ein Visum verschafft und wäre abgedampft. Jetzt ging das nicht mehr. Jetzt wäre das einer Kapitulation gleichgekommen. Was tat er? Er versteckte sich. Weinte aus steinernem

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