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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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zwar in der Kirche von Mariazell.«
    Stilgerecht in einem Wallfahrtsort erfolgte die Inauguration des Schutzengels. – Meine Mutter war es, die Carl so genannt hat. Natürlich spöttisch. Mein Vater hat ihr deswegen einmal seine Faust böse gegen die Schulter gerammt. Aber sie hat ja gar nicht über Carl gespottet, wie er meinte, sondern über uns, die Lukassers. Wenn sie zu meinem Vater sagte: »Unser Schutzengel hat für dich angerufen«, klang das aus ihrem Mund wie: Ich habe ihn mir nicht ausgesucht, und du hast ihn dir auch nicht ausgesucht, er hat sich uns ausgesucht, und wir finden nicht mehr heraus.
4
    Die Wahrheit ist: Sie hat ihn sich ausgesucht.
    Meine Mutter arbeitete als Serviermädchen im Café vom Hotel Imperial. Eines Tages trat sie an Carls Tisch und sagte: »Herr Professor, ich muß Sie etwas fragen. Wollen Sie mir helfen?« Und sie meinte damit nichts anderes als: Er sollte den Freiwerber spielen, den Gelegenheitsmacher, den Kuppler. Mein Vater und Carl trafen sich zu dieser Zeit sehr häufig, und zwei-, dreimal in der Woche trafen sie sich zum Frühstück im Café vom Imperial. In dem Haus am Rudolfsplatz standen nach dem Abzug der amerikanischen Offiziere zwei Stockwerke leer. Carl hatte meinem Vater einen Raum im Erdgeschoß zum Probieren überlassen. Mein Vater spielte inzwischen auf der Gibson an einem kleinen Verstärker, zusammen mit einem Schlagzeuger, einem Bassisten und einem Vibraphonisten, der auch einigermaßen das Klavier und das Akkordeon bedienen konnte. Sie probierten Neues aus, alles unter dem Diktat von Georg Lukasser, versteht sich. In dem Gemeindebau, in dem mein Vater und meine Großmutter wohnten, hätte er nicht so laut spielen dürfen und auch nicht bis spät in die Nacht hinein. Am Rudolfsplatz störte das niemanden. Er besaß einen Schlüssel zum Haus, konnte kommen und gehen, wann er wollte. Carl sagte: »Sie bieten mir den Genuß Ihrer Kunst, es ist nur recht und billig, wenn ich Sie dafür ab und zu zum Frühstück einlade.« Meistens war Carl vor meinem Vater im Imperial, er las die Zeitungen, und so gut wie immer verspätete sich mein Vater – nicht eine Viertelstunde, nicht eine halbe Stunde –; es ärgerte Carl, in welchem Maß er es sich gestattete, auf ihn zu warten.
    Als junge Frau sah meine Mutter nicht so gut aus wie später; wir besitzen nicht viele Fotos aus dieser Zeit, aber alle zeigen sie hohläugig und blaß. Carl erzählte, sie sei beinahe geborsten vor nervöser Unruhe, habe niemandem in die Augen sehen können, habe keine zwei Minuten ruhig sitzen können, habe die Angewohnheit gehabt, sich an den Handrücken zu kratzen, sei bis zur Unhöflichkeit sparsam mit Worten gewesen und habe immer gehüstelt. Die Haare hatte sie in einem Knoten am Hinterkopf zusammengebunden, das wurde von der Hotelleitung verlangt. In der Nervosität bekam ihre Stimme eine strenge, vorwurfsvolle Höhe. »Ich muß Sie etwas fragen!« Das klang wie: Jetzt reicht’s aber!
    Er solle sie mit diesem jungen Mann an seiner Seite bekannt machen, sagte sie. Du lieber Himmel, habe er sich gedacht, was für eine Formulierung!
    »Was wollen Sie von ihm?« fragte er. Ihm kam gar nicht in den Sinn, daß sie an Georg als Mann interessiert sein könnte. Sie trug ihr Begehr in so sachlicher Form vor, daß er nichts anderes als irgendein Geschäft vermutete – ohne allerdings auch nur einen Tau zu haben, um was für ein Geschäft es sich handeln könnte. Sie war gekleidet mit der niedlichen Uniform der weiblichen Angestellten des Imperial – weiße Kniestrümpfe in schwarzen Schnürstiefelchen, einen dunkelblauen wadenlangen Rock, weiße Schürze mit Rüschen, weiße Handschuhe und ein weißes Häubchen, das sie als eine Beleidigung empfinde – wie sie in einem plötzlichen Umschwung in ihrem Tonfall zu einem beinahe intimen Fauchen von sich gab, voller Ärger; so daß Carl nun vermutete, ihre Nervosität rühre allein daher, daß sie sich permanent unter Gewalt halte, um nicht zu explodieren. Sie war erst zwanzig und sehr ernst und nicht eine Spur verlegen.
    »Ich habe mich nämlich verliebt in ihn«, fuhr sie fort, als wäre die vor einer Minute, die mit dem Zorn auf ihren Arbeitgeber, eine andere gewesen, »und ich möchte, daß er mein Freund wird. Wie heißt er?«
    Das habe ihm gefallen. Zuerst die Sache, dann die Person. Das hatte seine Logik. Die Person wird von der Sache geprägt. Bevor sie von der Liebe sprach, hatte sie sich die Handschuhe abgezogen, und als gesagt war, was sie

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