Dunkle Wasser in Florenz - Roman: Roman
F LORENZ , OKTOBER 1966
Im Halbschlaf streckte er einen Arm aus, um nach Elviras warmem Körper zu tasten, aber seine Finger fanden nur den rauen Leinenstoff des Lakens, und da erinnerte er sich, dass sie gegangen war. Er drehte sich auf den Rücken und starrte in die Dunkelheit. Wieder einmal war eine Frau in sein Leben getreten und so schnell wieder daraus verschwunden, wie eine Kugel einen Körper durchschlägt. Vielleicht würde die Frau, die für ihn geschaffen war, erst in hundert Jahren zur Welt kommen, oder vielleicht war sie schon geboren worden und bereits wieder gestorben. Auf jeden Fall würde er sie niemals kennenlernen.
Jedes Mal, wenn er wieder allein war, tat sich vor ihm eine unbekannte Welt auf, die er sich erst zu eigen machen musste. Das war ein wenig wie eine Wiedergeburt, und bei allem Unbehagen spürte er auch ein Gefühl von Freiheit.
Wie spät war es? Er sah zu den Fensterläden hinüber, zwischen den Holzlatten schimmerte noch kein Tageslicht hindurch. Er fühlte sich erschöpft. Mit jedem Tag wurde die Hoffnung geringer, dass der Junge doch noch lebend gefunden würde. Der kleine Giacomo war vor fünf Tagen spurlos verschwunden. Knapp dreizehn Jahre alt, kastanienbraune Haare, braune Augen, ein Meter siebenundvierzig groß. Ein ruhiges Kind, fleißig und gehorsam. Was, wenn er doch nur ein kleiner Ausreißer war? Mit dreizehn begeht man schon einmal so eine Dummheit.
Casini hätte alles dafür gegeben, dass es tatsächlich so wäre, aber er glaubte eigentlich nicht daran. Er sprach häufig mit Piras, seinem jungen Assistenten, über diese Möglichkeit, aber auch der Sarde war pessimistisch. Bislang waren sie keinen Schritt vorangekommen, hatten nicht den geringsten Anhaltspunkt.
Als es klingelte, schreckte er hoch, und da erinnerte er sich wieder an Botta. Es war Montag. Sein Freund, der ehemalige Sträfling, hatte ihm das Versprechen abgerungen, mit ihm in den Hügeln oberhalb von Poggio alla Croce Pilze sammeln zu gehen. Das wäre genau die richtige Zeit, hatte Botta gesagt.
Nach vielen Tagen Regen war die Sonne endlich ein wenig herausgekommen, und es war etwas wärmer geworden. Montag wäre der beste Tag, hatte Botta erklärt, keine Familien auf Sonntagsspaziergang und wenig Jäger. Casini interessierte sich nicht für Pilze, er verstand nichts davon und hatte noch nie welche gesammelt. Aber eine kleine Wanderung durch die Wälder würde ihm guttun. Wenn er immer nur über den Jungen nachdachte, zermürbte ihn das bloß.
Er rollte sich aus dem Bett und trat ans Fenster, spürte die kühle Luft auf der Haut. Der Himmel war noch tiefdunkel, und auf dem Bürgersteig konnte er nur gerade so eine Silhouette erkennen.
»Ennio, bist du das?«, fragte er leise.
»Nein, der Weihnachtsmann …«
»Komm rauf, dann trinken wir noch einen Kaffee.« Er versuchte, die Fensterflügel möglichst leise zu schließen, und ging dann barfuß in den Flur, um Ennio die Tür zu öffnen. Er zog sich noch schnell Hosen an und wusch sich mit kaltem Wasser das Gesicht, um wach zu werden. Als Botta ihn im Unterhemd vorfand, breitete er entsetzt die Arme aus.
»Commissario, sagen Sie mir jetzt nicht, dass Sie noch geschlafen haben … Es ist schon halb sechs.«
»Setz schon mal den Kaffee auf, ich bin gleich fertig.« Er zog sich vollständig an, holte ein Paar alter, fester Schuhe aus dem Schrank und ging dann zu Botta in die Küche. Sie tranken schnell ihren Kaffee, verließen das Haus und nahmen Casinis Wagen. In der Stille über San Frediano rasselte der Motor des Käfers unerträglich laut. An der Piazza Tasso bogen sie links ab. Unter dem schwarzen Nachthimmel lag der Viale Petrarca verlassen da. Als sie die Porta Romana erreichten, nahmen sie die Straße nach Poggio Imperiale. Bergauf dröhnte der Käfer wie ein Panzer.
»Versprich mir eines, Ennio.«
»Mal sehen …«
»Fang bitte nicht zu flennen an, wenn wir keine Pilze finden.«
»Was sagen Sie da, Commissario. Kann gar nicht passieren. Wir werden so viele finden, dass wir welche stehen lassen müssen.«
»Bist du dir da sicher?«
»Machen Sie Ihre Arbeit, darin sind Sie richtig gut … Aber lassen Sie die Finger von Dingen, von denen Sie nichts verstehen.«
»Ich wäre gern so optimistisch wie du.« Er dachte an den vermissten Jungen und spürte beinahe Gewissensbisse, weil er seine Zeit mit Pilzesammeln vergeudete. Aber was konnte er sonst tun? Etwa im Büro sitzen und sich verrückt machen, während er das Bild des kleinen Giacomo
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