Abendstern - Roman
dich bestimmt nicht mehr.« Cals Arme konnten das Gewicht kaum noch tragen. Er warf Gage einen finsteren Blick zu. »Warum nimmst du eigentlich deinen Rucksack nicht auf den Rücken und hilfst mir?«
»Weil ich ihn trage.« Aber er klappte doch den Deckel des Korbes zurück und schob ein paar der Tupperware-Dosen in seinen Rucksack. »Pack auch welche ein, O’Dell, sonst brauchen wir noch den ganzen Tag, um zu Hester’s Pool zu kommen.«
»Scheiße.« Fox zog eine Thermosflasche heraus und stopfte sie in seinen Rucksack. »Ist es jetzt leicht genug für dich, Sally?«
»Halt’s Maul. Ich habe den Korb und meinen Rucksack.«
»Ich habe den Einkauf aus dem Supermarkt und meinen Rucksack.« Fox nahm seinen teuersten Besitz vom Fahrrad. »Du trägst das Radio, Turner.«
Gage zuckte mit den Schultern und ergriff den Ghettoblaster. »Dann suche ich auch die Musik aus.«
»Aber kein Rap«, erwiderten Cal und Fox unisono, aber Gage grinste nur und drehte so lange am Sender, bis er Musik nach seinem Geschmack fand.
Stöhnend machten sie sich auf den Weg zur Schlucht.
Das Laub war so dicht, dass die Sommerhitze hier im Schatten der hoch aufragenden Pappeln und Eichen nicht so schlimm war.
»Gage hat ein Penthouse«, verkündete Fox. Als Cal
ihn nur verständnislos anstarrte, fügte er erklärend hinzu: »Die Zeitschrift mit den nackten Frauen, Blödmann.«
»Oh, oh.«
»Na, komm schon, Turner, hol sie raus!«
»Erst wenn wir unser Lager aufgeschlagen haben und das Bier aufmachen.«
» Bier!« Instinktiv warf Cal einen furchtsamen Blick über die Schulter, als ob auf einmal seine Mutter hinter ihm stünde. »Du hast Bier?«
»Drei Dosen«, bestätigte Gage. »Zigaretten auch.«
»Ist das nicht toll?« Fox boxte Cal in den Arm. »Das wird der beste Geburtstag, den wir je hatten.«
»Ja«, stimmte Cal ihm zu. Insgeheim jedoch starb er vor Angst. Bier, Zigaretten und Bilder von nackten Frauen. Wenn seine Mutter das jemals herausfand, bekäme er Stubenarrest, bis er dreißig wäre. Und da hatte er noch nicht einmal mitgezählt, dass er sie angelogen hatte und durch den Hawkins Wood marschierte, um beim ausdrücklich verbotenen Heidenstein zu zelten.
Wahrscheinlich würden sie ihn in sein Zimmer einsperren, bis er in hohem Alter starb.
»Mach dir nicht in die Hose.« Gage nahm den Rucksack in die andere Hand. »Das ist doch alles cool.«
»Ich mache mir nicht in die Hose.« Aber Cal zuckte doch zusammen, als ein fetter Eichelhäher aufflog und wütend keckerte.
2
Hester’s Pool war in Cals Welt ebenfalls verboten, was nur einer der Gründe war, warum er und seine Freunde den Teich unwiderstehlich fanden.
In dem schlammigen braunen Wasser, das von dem Bach Antietam gespeist wurde und tief im dichten Wald lag, spukte es angeblich, weil dort irgendein Puritaner-Mädchen ertrunken sein sollte.
Seine Mutter hatte auch von einem Jungen erzählt, der dort ertrunken war, als sie noch ein Kind war, und das war für sie ein Grund, Cal absolut zu verbieten, jemals dort zu schwimmen. Angeblich lauerte der Geist des Kindes immer noch dort und wartete nur darauf, ein anderes Kind zu sich in die Tiefe zu ziehen, damit er jemanden zum Spielen da unten hatte.
Cal war in diesem Sommer schon zweimal dort geschwommen, ganz zitterig vor Angst und Aufregung. Und jedes Mal hätte er schwören können, dass knochige Finger über seine Knöchel strichen.
Die Uferregion war dicht mit Rohrkolben und den wilden orangefarbenen Lilien bewachsen, die seine Mutter so gerne hatte. Farne bedeckten den steinigen Abhang und Ranken mit Beeren, deren Saft beinahe wie echtes Blut aussah.
Als sie das letzte Mal hier gewesen waren, hatte er eine schwarze Schlange gesehen, die sich den Abhang am Ufer hochgeschlängelt hatte.
Fox stieß einen Schrei aus und ließ seinen Rucksack
fallen. In Sekundenschnelle hatte er sich Schuhe, T-Shirt und Jeans ausgezogen und schoss wie eine Kanonenkugel ins Wasser, ohne auch nur einen Gedanken an Schlangen oder Geister zu verschwenden.
»Kommt schon, ihr Schwächlinge.« Fox tauchte und glitt wie ein Seehund durch den Teich.
Cal setzte sich und schnürte seine Converse All Stars auf. Seine Socken steckte er sorgfältig hinein. Dann blickte er zu Gage, der nur dastand und übers Wasser blickte, in dem Fox jubelnd plantschte.
»Gehst du nicht rein?«
»Ich weiß noch nicht.«
Cal zog sein Shirt aus und faltete es, aus reiner Gewohnheit. »Es steht aber auf der Liste. Wir können es erst ausstreichen, wenn
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