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Abenteuer des Werner Holt

Abenteuer des Werner Holt

Titel: Abenteuer des Werner Holt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Noll
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anfangen: Beeilen Sie sich … Das Schlucken schmerzte, die Kehle war wund. Fräulein Dengelmann sagte: »Beeilen Sie sich! Es fällt wieder auf uns zurück, wenn Sie zu spät kommen …«
    Holt schob den Teller mit den Broten von sich. Durch die Tür trat Eulalia, in einen verwaschenen Schlafrock gewickelt. Sie hat ein Gesicht wie ein Schaf, dachte er, und Veronika sieht aus wie der Vollmond.
    »Sehen Sie zu, daß Sie fortkommen«, sagte nun auch Eulalia, »es ist gleich sieben …« Er warf ihr einen bösen Blick zu. Wenn Wolzow mich verdroschen hat, dachte er, muß ich etwas so Verrücktes anstellen, daß mein Ansehen wiederhergestellt wird. Bei Maaß, beim Ordinarius! Ich habe alle Lehrer hereingelegt, Zickel, meckmeck, Schöner, Gruber, alle … Mag Zemtzki sticheln: Bei Maaß traust du dich nicht … Bei Maaß traut sich keiner, nicht mal Wolzow. Aber ich bin gerissen, ich fange auch Maaß, und das wird mich zum Helden des Tages machen. Ich werde bei Maaß die Sprache verlieren, und wenn er mich bestrafen will, zieh ich ein ärztliches Attest aus der Tasche, daß ich seit gestern taubstumm bin; aber woher nehm ich das Attest? Oder ich werde bei einer Antwort den Mund nicht mehr schließen und bloß noch lallen können, Maulsperre, Kieferklemme, da wird die Klasse toben vor Freude, und wenn Maaß vor Wut einem Schlaganfall nah ist, gibt mir jemand die vereinbarte Ohrfeige, und dann ist alles wieder in Ordnung; da soll er mir erst mal was beweisen! Das ist eine gute Idee! Oder … ob man ihn mit seinen wahnsinnigen Schachtelsätzen reinlegen kann?
    Er saß unbeweglich am Tisch. Ein herrlicher Tag! Ich möchte ein Segelboot haben! Man könnte … Sein Blick fiel durch das Fenster auf die gebeugte Gestalt der alten Dengelmann; die Greisin tappte durch die Beete und riß die jungen Kohlrabipflanzen aus dem Boden, eine nach der anderen … »Fast jeden Tag kommen Sie zu spät zur Schule«, schimpfte Veronika Dengelmann, »gestern traf ich Herrn Benedict …« Benedict? Das war der Turnlehrer, und er war harmlos … Und jetzt reißt die Alte tatsächlich auch noch die Salatpflanzen aus! »Passen Sie auf Ihren Grünkram auf«, sagte Holt, »die Alte ist im Garten!« – »Ogottogott!« Türen schlugen. Im Garten erhob sich Gezeter.
    Holt verließ das Haus. Langsam ging er die Bahngeleise entlang; er ließ sich Zeit, er kam sowieso zu spät zum Unterricht, und Ausreden gab es genug. Meistens mußten die geschlossenen Bahnschranken herhalten.
    »Holt!« rief es hinter ihm. »Warte!«
    Das ist Rutscher, der verdirbt mir den Schulweg. Fritz Rutscher war der Sohn eines vor zwei Jahren verstorbenen Studienrates. »Schon sieben durch«, keuchte er, »… müssen uns beeilen!« Er war vom schnellen Lauf so außer Atem, daß er das Stottern vergaß.
    »Hast du Angst?« sagte Holt mürrisch. »Zu zwein«, stammelte Rutscher, ein semmelblonder Junge, »zu zwein findt man bessere Ausreden!« Sie überquerten die Bahngeleise. Nun führte die Bismarckallee, breit und von Linden gesäumt, hinab in die kleine Stadt. Links und rechts standen Villen.
    Hier wohnen Barnims, dachte Holt. Er blickte neugierig auf ein großes, geklinkertes Haus. Oberst Barnim hatte zwei Töchter. Gerda, fünfzehnjährig, besuchte die Mädchen-Oberschule; Holt traf sie manchmal auf dem Schulweg, ein mageres, sommersprossiges Mädchen. Sie soll noch eine Schwester haben, Uta Barnim, die ist neunzehn, Abitur mit Auszeichnung, und voriges Jahr war sie Gebietsmeisterin im Tennis; ich hab sie noch nie gesehen, aber alle sagen, sie ist das schönste Mädchen in der Stadt. Und hier wohnt der Peter Wiese, gleich nebenan. Der ist natürlich längst in der Schule, der Wiese-Peter, ein richtiger Miesepeter,der Primus, der alles weiß und lateinische Reden halten kann, aber nie einen Jux mitmacht. Er spielt wunderbar Klavier.
    Schon oft war Holt, unter irgendeinem Vorwand, im Hause des Amtsrichters Wiese erschienen und hatte schließlich gesagt: »Spiel doch mal was, du …« Dann setzte sich der kränkliche und schwache Peter an den Flügel. Holt konnte stundenlang zuhören, unbeweglich in einem Sessel.
    Vor Holts Augen drehten sich feurige Kreise, es rauschte in seinen Ohren … Er rang nach Atem. »Was hast du?« rief Rutscher. Ein Kälteschauer lief über Holt hin, dann wurde ihm heiß. Sollte er wirklich krank sein? Alles war ganz nahe herangerückt, wie durch ein Vergrößerungsglas anzusehen, und Rutschers Stimme hatte ein Echo …
    »Was sagen wir dem Schöner?«

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