Abenteuer des Werner Holt
Vorspiel
1
Der Wecker rasselte. Werner Holt schreckte aus dem Schlaf, sprang aus dem Bett und stand ein wenig taumelig im Zimmer. Er fühlte sich nicht erfrischt, sondern matt und benommen. Sein Kopf schmerzte. In einer Stunde begann der Schulunterricht.
Durch die weitgeöffneten Fenster flutete Sonnenlicht. Der Mai des Jahres 1943 endete mit heißen, trockenen Tagen, mit prachtvollem Badewetter. Der Fluß, der bei der kleinen Stadt reißend durch die Berge brach, lockte mit seinen grünen Ufern weit mehr als das ziegelrote Schulhaus und seine muffigen Räume.
Mathematik, Geschichte, Botanik und Zoologie, dachte Holt, und dann zwei Stunden bei Maaß, Studienrat Maaß, Latein und Englisch. Die Übersetzung aus dem Livius muß ich bei Wiese abschreiben, in der großen Pause. Wenn ich bei Zickel drankomm, meck-meck, dann gibt’s ein Fiasko … Allmählich wich der dumpfe Schmerz, der hinter der Stirn saß. Er erinnerte sich jetzt, erregend und beängstigend geträumt zu haben, von der Marie Krüger und ihrem zigeunerhaft bunten Rock, und dann von einer Schlägerei mit Wolzow.
Ich bin krank, dachte er, als ihn bei der dritten Kniebeuge vor dem offenen Fenster ein Schwindelgefühl ergriff, ich geh nicht in die Schule, mir ist elend, ich bleib im Bett. Nein! Das ist unmöglich. Wenn ich heut fehle, dann hab ich verspielt, dann heißt es, ich hab Angst vor Wolzow. Bei diesem Gedanken wurde ihm noch elender. Es hatte gestern mit Wolzow Krach gegeben, es hatte vorgestern, es hatte jeden Tag Krach gegeben; und heute war die Prügelei fällig. Er fürchtete niemanden in der Klasse, aber gegen Wolzow hatte er keine Chance: und damit war er erledigt. Denn einunbesiegter Held war, von Homer bis heute, so gewaltig wie sein Mundwerk, aber ein besiegtes Großmaul war nur noch lächerlich.
Es ist ein Jammer, dachte Holt, als er sich unlustig und frierend mit kaltem Wasser wusch und dabei in den Spiegel starrte; es ist ein großer Jammer: Wolzow und ich, wir würden die ganze Schule beherrschen, wenn wir Freunde wären, denn die älteren Jahrgänge sind beim Militär, wir sind die oberste Klasse.
Er trocknete sich ab. Er befühlte Wangen und Oberlippe: der Bart ließ sich Zeit, das war Holts Kummer. Er rasierte sich nur aus Prestigegründen. Mit sechzehneinhalb noch fast ohne Bart … eine Schande! Kein Wunder, daß er sich mit so einer glatten Haut nicht an die Marie Krüger herantraute, wenn sie dann und wann wie eine Katze in der Badeanstalt herumstrich. Immerhin: als er ihr kürzlich begegnet war, da – er besann sich genau – hatte sie ihn mit einem verwirrenden Blick angeschaut … Außerdem: kratzte es am Kinn nicht doch schon ganz ordentlich?
Einsfünfundsiebzig groß, siebenundsechzig Kilo schwer, schmal, doch muskulös, aber neben Wolzow, der einsachtundachtzig maß und fast neunzig Kilo wog, eben doch beinahe knabenhaft. Dunkeläugig, dunkelhaarig sah er sich im Spiegel, und das Haar war sehr widerborstig und ringelte sich gern in die Höhe. Er kämmte sich, er kleidete sich an. Der Kopfschmerz war vergangen, nur ein dumpfer Druck wollte nicht von der Stirn weichen. Auch machte das Schlingen Beschwerden, und der Mund war trocken.
Wolzow galt seit eh und je als der größte Flegel der Schule, zweimal Consilium, das drittemal nur durch Intervention seines Generalsonkels dem Hinauswurf entgangen. – Und ich Idiot komm neu in die Klasse und lauf ihm den Rang ab, statt seine Freundschaft zu suchen! Das wär ein Freund, Gilbert Wolzow, ein Freund wie Hagen von Tronje, Winnetou oder Roller!
Er war fertig, er stopfte ein paar Bücher in die Aktentasche, dann lief er die Treppen hinab.
Das Haus gehörte den Schwestern Eulalia und Veronika Dengelmann, eigentlich deren Mutter, einer fünfundachtzigjährigen Greisin, die wegen Altersschwachsinn entmündigt worden war.Die beiden Schwestern, zweiundfünfzig und sechsundvierzig Jahre alt, unterhielten eine Pension, »Kost und Logis für alleinstehende Herren«. Holt wurde verwöhnt, da seine Mutter großzügig zahlte; er war zeitlebens verwöhnt worden. Seit zwei Monaten lebte er in der Pension und tyrannisierte die Schwestern.
Er trat in das Wohnzimmer im Erdgeschoß und rief nach dem Kaffee. Veronika Dengelmann, die jüngere der Schwestern, das Gesicht dick mit Fett eingerieben und die Haare voller Lockenwickel, setzte die Tasse und den Teller mit Broten vor ihn hin. »Guten Morgen.«
Holt antwortete nicht. Er dachte: Ich bin krank. Gleich wird sie wieder
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