Abenteuer des Werner Holt
fragte Rutscher. – »Am Bahnübergang war’n Verkehrsunfall. Da ist ein Radfahrer mit einem Lieferwagen zusammengestoßen.« – Rutscher staunte: »Hast du das g-g-gesehn?« – »Das sagen wir! Wir mußten der Polizei alles zu Protokoll geben.« – »Großartig!« Rutschers Phantasie entzündete sich. »Ich werd sagen, der Radfahrer hat ganz f-f-furchtbar geblutet!« – »Hör auf«, sagte Holt. »Und laß mich reden, verstanden?«
Holt blieb in der Tür stehen und überschaute den Klassenraum. Schöner, der Mathematiklehrer, stand an der Tafel und malte sie wie üblich voll Zahlen. Er war ein Mann von achtundsechzig Jahren, der, wie fast alle Lehrer der Schule, schon einmal pensioniert gewesen und nun wieder zum Unterricht herangezogen worden war. Er ließ die Schüler in Ruhe und rechnete selbst; seine Unterrichtsstunden verliefen still; niemand, außer Peter Wiese, arbeitete mit. Holt sah, daß der dicke Christian Vetter, Sohn eines Schreibwarenhändlers, hinten in der Ecke am Fenster, mit irgendwem Karten spielte. Gilbert Wolzow, wegen seiner Körpergröße quer in der Bank, saß über einem dicken Buch und las.
Holt brachte seine Entschuldigung in einem frechen und provozierenden Ton vor, der sie von vornherein unglaubhaft machte … Der blutende Radfahrer wurde mit Geschrei begrüßt, aber esklang ein wenig lustlos. Nur Fritz Zemtzki, ein Bürschlein mit brandrotem Haar, quäkte mit heller Kinderstimme: »O Gott, der arme, arme Radfahrer!«, aber auch das fand keine Resonanz. Es war wieder still; in der Ecke warf Vetter seine Trümpfe auf den Tisch.
Schöner trug Holts Verspätung ins Klassenbuch ein. Rutscher war unbemerkt auf seinen Platz geschlichen. Die Eintragung hatte keine Bedeutung, denn Schöner schrieb mit Bleistift, und seine Eintragungen wurden wieder ausradiert, jeder Tadel und auch die Schulaufgaben. Aber als Holt in der Pause mit einem Radiergummi aufs Katheder stieg, rief Wolzow mit rauher, wüster Stimme: »Na, da hast du Schiß, daß der Maaß was erfährt!«
Holt klappte das Klassenbuch zu. Mochte die Eintragung stehenbleiben! »Ich und Schiß?« sagte er. »Vor Maaß haben andere Leute Schiß, auch wenn sie sonst mit der Schnauze vornan sind!« – »Meinst du mich?« fragte Wolzow drohend und legte den Kopf auf die Seite … Aber da schrillte schon, vom Korridor her, der Warnungspfiff, und Knack marschierte ins Zimmer, dreißigjährig, wegen eines Herzfehlers wehrdienstuntauglich, Studienassessor Knack. »Heil Hitler, Kameraden!«
Die Klasse antwortete: »Heil Hitler!« – »… Kamerad Knack«, rief Holt hinterher, denn er wollte es Wolzow zeigen. In der Klasse gab es unterdrücktes, beifälliges Gelächter. Wolzow biß sich auf die Lippe. Zum zweiten Male an diesem Morgen wurde Holt ins Klassenbuch eingetragen, getadelt wegen »unarischer Frechheit«, wie Knack mit seiner schnarrenden Kommandostimme bekanntgab. Dann begann der Geschichtsunterricht. Dies ist Wolzows Stunde, dachte Holt.
Gilbert Wolzow war ein paar Monate über sechzehn Jahre alt. Sein Vater, der Oberst Wolzow, stand als Regimentskommandeur an der Ostfront. Wenn man Wolzows Erzählungen glauben durfte, so waren die Wolzows ein preußisches Offiziersgeschlecht, das seit zweihundert Jahren ausnahmslos Offiziere hervorgebracht hatte; der Bruder des Obersten Wolzow war Generalmajor. Auch Gilbert wollte Offizier werden, und er bereitete sich von Kind an darauf vor.
Er war der ungekrönte König der Klasse, ja der Schule, der die Cliquen und Schülergruppen mit Gewalt zusammenhielt und niemals, bis Holt in die Klasse eingetreten war, Widerspruch geduldet hatte. Er war zugleich der »frechste und faulste Schüler der Anstalt«, wie Maaß, der Klassenlehrer, des öfteren sagte, denn er stand in den meisten Fächern so jammervoll schlecht, daß seine Versetzung in die nächste Klasse diesmal gefährdet schien. Aber in allem, was mit Krieg, Kriegswesen, Kriegsgeschichte, mit Waffentechnik und Kriegsgerät zu tun hatte, war er ein Phänomen. Er hatte frühzeitig begonnen, die kriegswissenschaftliche Bibliothek seines Vaters zu lesen, und sein erstaunlich gutes Gedächtnis hatte eine Fülle von Einzelheiten behalten, über die er nach Belieben verfügte; entfiel ihm doch einmal ein Schlachtendatum, der Name eines Feldherrn, so schlug er in dem dicken Taschenbuch nach, das er immer mit sich herumschleppte … Jetzt saß er zurückgelehnt in seiner Bank, das Gesicht mit den grauen Augen und der Adlernase emporgehoben
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