Abgang ist allerwärts
das eine oder andere vorbereiten können, denn ich war sicher, dass Gisbert nach wie vor bestens über alle Bewohner von Hohenfeld informiert war, da sie ihn mit zunehmendem Alter bestimmt dringender benötigten denn je.
Doktor Gisbert Sasse hatte damals eines Tages überraschend bei mir an die schwere eichene Eingangstür des Fachwerkhauses geklopft und sich als der Landarzt vorgestellt, für den Fall, dass ich ihn mal benötigen sollte, wie er scherzhaft hinzugefügt hatte. Als er sprach, war deutlich zu hören, dass er nicht aus der Gegend hier kam, sondern aus Thüringen oder Sachsen, so genau war das nicht zu unterscheiden. Aber die Einheimischen hatten den Zugereisten wohl oder übel akzeptiert, denn mit dem Doktor musste man sich gut stellen, ganz gleich, woher der kam.
Es sollte sich bald herausstellen, dass er nicht nur Arzt, sondern auch Jäger, Heimatforscher und nicht zuletzt privater Umweltschützer war, was ihm nicht nur Freunde eingebracht hatte, sowohl bei den Bauern, als auch bei den Behörden. Die Dorfbewohner kippten ihren Müll, ganz gleich welcher Art, häufig in eines der zahlreichen Bruchgewässer, weit genug vom eigenen Dorf entfernt, um jeden Verdacht von sich fern zu halten oder in den nahe gelegenen Wald, der so groß war, dass er bis nach Polen hinüberreichte, da ließ man sich nicht gern auf die Finger gucken. Und die offiziellen Stellen hatten jede Umweltverschmutzung ohnehin vertuscht oder verleugnet, so etwas gab es nur im profitgierigen Kapitalismus. Gisbert hatte mir damals von einem kleinen Zufluss in einem Badeort der Ostsee erzählt, wo giftige Abwässer ungeklärt ins Meer geleitet worden waren, gekennzeichnet nur durch eine kleine hölzerne Tafel: Baden und Fotografieren verboten . Er hatte trotzdem ein Foto von der brackigen übel riechenden Brühe gemacht, wie er mir damals grinsend gestanden hatte.
Mit den Jahren waren wir uns immer näher gekommen und wir hatten uns auch nach meinem Weggang noch jahrelang geschrieben. Aber im Laufe der Zeit wurden die Briefe immer seltener, bis unsere Korrespondenz endgültig eingeschlafen war. Gisberts Telefonnummer hatte ich über die Auskunft erfahren und ihn kurz vor meiner Reise in die Vergangenheit angerufen. Er war am Telefon keinesfalls überrascht, aber hörbar aufgeregt gewesen.
Um ein Haar hatte ich die Autobahnabfahrt verpasst, da mich kurz davor ein paar Autos in mörderischem Tempo überholten. Die jungen Leute darin veranstalteten mit ihren nicht mehr ganz neuen Fahrzeugen offensichtlich ein Wettrennen. Sie waren laut hupend und lachend in halsbrecherischer Fahrt an mir vorbeigerast, und ich hatte das Heulen der getunten Motoren noch immer im Ohr, als ich die Autobahn längst verlassen hatte.
Langsam bog ich in die kopfsteingepflasterte Straße am Ufer des Sees ein, der mit seinem bleifarbenen Wasser bis an die Felder am Ortsrand reichte. Ich sah sofort, dass Gisbert schon auf der Terrasse seines Hauses stand und grüßend die Hand hob. Sein rötliches Haar war von grauen Strähnen durchzogen, aber sonst schien er kaum gealtert.
Das letzte Mal, als er und seine Frau mir in den frühen achtziger Jahren hier am Ufer des lang gezogenen Sees zugewinkt hatten, war dies zum Abschied, als ich für immer – so schien es damals – die Gegend verließ. Ich stieg aus, schwenkte die Single-Malt-Whisky-Flasche, die ich mitgebracht hatte, über meinem Kopf und lachte vielleicht etwas zu laut, um den Kloß in meinem Hals loszuwerden.
Gisbert lief mir entgegen und wir umarmten uns lange.
»Gut siehst du aus.« Gisberts Stimme klang belegt. »Na ja«, entgegnete ich etwas verlegen, »das hör ich immer wieder. Aber du kannst dich ja auch nicht beklagen.«
Ich überreichte ihm die bauchige Flasche mit einem etwas lahmen Witz, um meine Verlegenheit zu überspielen: »Hier, den hab ich extra für dich mitgebracht, du weißt ja, ich komme aus dem Westen«.
Gisbert lachte. »Jetzt kannst du dich in dieser Gegend hier in alle Himmelsrichtungen drehen und überall ist Westen«. Der Immer-noch-Landarzt war auch nach all den Jahren nicht um eine Antwort verlegen.
»Und, warst du schon am Ort deiner Sehnsucht?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Na ja, alles zu seiner Zeit, komm erst mal rein, Hildegard hat eine Rehkeule im Backofen, den Bock habe ich selbst geschossen.« Gisbert grinste, als ihm die Doppeldeutigkeit des Satzes bewusst wurde. »Und du kannst wählen zwischen einem St.Emilion Grand Crû und einem Amarone«, fuhr er fort. Er war
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