Das Mädchen in den Wellen
K eine Angst. Es tut dir nichts.
Nora läuft kreischend den Strand entlang, den Wellen davon. Das Wasser wird sie nicht erwischen. Das lässt ihre Mutter nicht zu.
Nimm meine Hand.
Die Finger ihrer Mutter sind warm. Nora reicht ihr nur bis zur Taille. Ich werde nie groß genug sein. Ich werde nie wie du sein.
Ihre Mutter lacht. Das Lachen perlt wie Licht auf dem Wasser. Ihr Rock klebt an ihren Beinen, weil sie voll bekleidet hineingetaucht ist. Sie ist nicht wie die anderen Mütter mit ihren Regeln und ihrer Vorsicht. Natürlich wirst du irgendwann so sein wie ich. Du bist ein Teil von mir. Das wirst du immer sein.
Warum?
Weil das bei Müttern und Töchtern so ist. Sie berührt lächelnd Noras sommersprossige Nase. Ihr unvergleichliches Lächeln. Ihr unvergleichlicher Blick.
Nora läuft kichernd weg. Fang mich, fang mich! Sie hört das Knirschen des Sandes unter ihren Füßen, Atem, zuerst noch nahe, dann weiter weg. Sie duckt sich zwischen die Felsen, die mit Muscheln und kleinen Krebsen, Napf- und Strandschnecken übersät sind, die Steine nass und dunkel. Ihre Mutter kann ihr nicht folgen, weil sie nicht klein genug ist. Nur ein Kind passt hier durch. Nora gewinnt selten bei ihren Spielen. Heute wird es anders sein. Sie versteckt sich, wartet, gefunden zu werden, darauf, dass ihre Mutter sich geschlagen gibt.
Minuten vergehen. Ein roter Krebs grüßt mit einer Schere, verschwindet in einer Ritze. Ein anderer schließt sie klickend wie der Auslöser an der Kamera ihres Vaters. Die Geschöpfe des Meeres verkriechen sich, weil sie etwas herannahen spüren. Zunächst macht Nora sich darüber keine Gedanken.
Dann wird ihr klar: Die Flut kommt herein. Sie hätte sich nicht so weit hinauswagen sollen. Sie weiß nicht, wie man unter Wasser atmet.
Nora! , ruft ihre Mutter. Nora! Wo bist du?
Hier. Ich bin hier.
Ihr Fuß hat sich verfangen, die Sohle ihrer Sandale steckt fest, als würden die Felsen sie nicht mehr loslassen wollen. Sie zerrt an den Riemen. Ihre Mutter hilft ihr immer beim Ausziehen; jetzt, da das Leder nass ist, lassen sie sich noch schwerer lösen. Das Wasser steigt an, erreicht ihre Knöchel, ihre Knie, höher und höher. Wenn sie nicht bald jemand findet, geht sie unter.
Nach Luft schnappend schlägt Nora die Augen auf. Licht dringt an den Rändern der Jalousie ins Zimmer. Es ist halb sechs Uhr morgens, ein Dienstag. Die rot leuchtende Digitalanzeige des Weckers erinnert sie daran, wie wenig sie geschlafen hat. Das Geräusch der Zeitung, die der Austräger vor die Tür wirft, lässt sie aufschrecken.
Es war nur ein Traum. Nora sieht sich im Schlafzimmer um, versucht, sich in der Realität zu orientieren. Sie ist allein, nicht dabei zu ertrinken.
Der Brief, den sie einen Monat zuvor erhalten hat, ist vom Nachtkästchen auf den Boden gefallen. Nora weiß nicht, wie. Das Schiebefenster ist geschlossen, und es zieht nicht. Sie muss ihn im Schlaf heruntergewischt haben. Nora hat ihn am Abend zuvor noch einmal gelesen.
Der Brief ist von ihrer Tante Maire, die sie bittet, zum ersten Mal seit vielen Jahren nach Burke’s Island zu kommen, wo sie geboren wurde und ihre Mutter verschwand.
Sie darf keine Zeit mehr vergeuden. Es sind Ferien. Nora erträgt keinen Tag länger in dem Haus. Sie muss weg. Sie wird noch diesen Morgen die Sachen ihrer Töchter packen und mit ihnen aufbrechen.
EINS
J emand beobachtete sie, da war Nora sicher. Sie ließ den Blick über die kleine Bucht schweifen, über den Kieselstrand, die graubraunen Felsen. Angelplattformen schaukelten scheinbar schwerelos auf dem Wasser, unter dessen glatter Oberfläche sich Geheimnisse verbargen. Die abgeschliffenen Glasstücke, nach denen der Strand benannt war, schimmerten im Licht der Sonne, und Seetangstränge zeichneten Muster auf den Sand.
»Siehst du was?«, fragte ihre Tochter Ella.
Nora schüttelte den Kopf. Sie musste sich ins Gedächtnis rufen, dass sie hier auf Burke’s Island nicht ständig über die Schulter blicken mussten, weil sie den Skandal und die Presse hinter sich gelassen hatten. Und ihren Mann, die Ursache des Ganzen.
»Schau.« Annie deutete auf einen Haufen Muscheln auf der hinteren Terrasse. »Als ob sie gewusst hätten, dass wir kommen.« Mit ihren sieben Jahren lebte sie noch halb in einer Fantasiewelt.
»Wer?«, fragte Ella und runzelte wie üblich skeptisch die Stirn.
»Die Muschelmenschen«, antwortete Annie mit einem geheimnisvollen Lächeln.
»Quatsch. Wahrscheinlich hat Tante Maire sie
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