Abgekanzelt: Ein Büro-Roman (German Edition)
sinnloser Angriff, der tagelang die Zeitungen füllt. Ich, der einzige Überlebende, werde in den Zwanzig-Uhr-Nachrichten interviewt. Der Aufmacher. Hinter mir Leute, die in die Kamera winken.
»Sie müssen uns alles erzählen, Doktor Campi«, drängt mich eine Journalistin von oberhalb ihres vertrauenerweckenden Dekolletés. »Berichten Sie uns von dem Ereignis, von dieser schrecklichen Erfahrung. Wie ist es Ihnen gelungen, Doktor Campi, sich in Sicherheit zu bringen?«
»Nicht Doktor«, sage ich. »Einfacher Anwalt. In jedem Fall war es, wie Sie schon richtig gesagt haben, eine schreckliche Erfahrung, aufwühlend. Eine wilde Masse gefiederter Wesen, jeder Vernunft unzugänglich. Urplötzlich war das Gebäude diesem Angriff ausgesetzt. Glasscherben, umgekippte Stühle. Ich habe mich unter den Tisch geschmissen und …«
»Genau wie in dem Film, oder? Die Vögel «, unterbricht mich die Person, und das reicht schon, um meine Fantasien zu zerstören und mir diesen fixen Gedanken von der blonden Schauspielerin einzupflanzen – tot oder lebendig, wer weiß das schon – aus diesem Film von … Wie hieß noch mal der Regisseur? Tot oder lebendig, weiß ich nicht mehr.
Ich weiß es nicht mehr.
Ich schaue auf die Uhr.
Nach elf bereits, auch an diesem Abend.
Von der Straße dringt der Klang einer Sirene herauf, dann eine Vollbremsung, dann Stille. Ich hänge in einem ledernen Armstuhl, recke mich und greife nach einer Flasche Wasser. Während ich mein Glas vollgieße, schaue ich mich um. Zwei Kollegen sind noch da. Ein junger Anwalt ist auf einem Sofa zusammengesunken und durchforstet mit einer gewissen Würde das Innere seiner Nase. Ein anderer steht ein Stückchen von ihm entfernt und ist in die Lektüre eines Vertrags vertieft, den er in seinen zitternden Händen hält. Ich nehme all meine Kraft zusammen, schüttele den Kopf, um die Trägheit zu vertreiben, und bemühe mich ebenfalls um einen Hauch von Professionalität. Ich stecke meinen Finger in die Nase.
Zur Zeit arbeiten wir an einer Firmenübernahme. Unser Mandant, eine französische Geschäftsbank, verhandelt über den Erwerb eines Zweigs eines italienischen Unternehmens von einer deutschen Textilgesellschaft, die ihrerseits von einer englischen Kanzlei vertreten wird. Internationalität lautet die Devise. Was die Hochfinanz mit Unterhosen zu tun hat, ist mir allerdings immer noch nicht klar.
»Sie werden dafür bezahlt, uns in Rechtsfragen zu beraten, nicht um zu verstehen«, wurde ich von einem Mann aufgeklärt, dessen Tonfall darauf schließen ließ, dass er einer um einiges höheren Schicht angehört als ich. » Comprends ?«
» Mais oui «, sagte ich lächelnd.
Verdammte Scheiße , dachte ich mit demselben Lächeln.
Die Sitzung hatte heute Morgen begonnen. Pünktlich um neun waren im Veilchensaal des Mailänder Sitzes der Kanzlei Flacker, Grunthurst and Kropper alle auf dem Posten. Die deutsche Gesellschaft hat ein paar Berliner geschickt, blond, kantig und mit der unübersehbaren Ungeduld derjenigen, die kaum das Ende erwarten können, um ihre Dienstreise auf Firmenkosten endlich zu genießen. Die französische Geschäftsbank ist durch einen internen Mitarbeiter vertreten, einen korpulenten Mann mittleren Alters, der sich in seinem Nadelstreifenanzug sichtlich gut gefällt. Dann die jeweiligen Anwälte. Für die Deutschen ein Engländer: Timothy, um die fünfundvierzig, groß, kahl, mit einem jungen Mitarbeiter im Schlepptau. Der hat die Haare an den Ohren kurz geschoren, aber in seine Stirn fällt ein Schopf, den er gelegentlich berührt, um sich seiner Existenz zu vergewissern. Für die Franzosen sind wir da: Tiziano, ein junger Praktikant, der seit ein paar Wochen in unserer Kanzlei arbeitet, vierundzwanzig, frisch von der Uni, Bestnoten, sehr hoher Hemdkragen. Und ich, mittlerweile ohne besondere Eigenschaften.
Wir hatten uns um den großen, ovalen, glänzenden Mahagonitisch im Veilchensaal versammelt, vor jedem ein Glas Wasser, Unterlagen, ein Block, ein Stift, ein Laptop, und so war es dann losgegangen.
»Kaffee für alle?«
»Kaffee für alle.«
Nach nunmehr fünfzehn Umdrehungen des großen Zeigers hat sich die Szenerie verändert. Die Luft ist schwer. Die Vertreter der deutschen Gesellschaft sind seit Stunden im Restaurant und kehren nicht zurück. Bleiben wir Anwälte, schweigsam, hart an der Grenze zum Koma. Die letzten Stunden haben wir damit verbracht, ein weiteres Mal den Vertrag zu lesen, ohne überhaupt noch etwas zu
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