Ninragon – Band 1: Die standhafte Feste (German Edition)
Krähen, zerfetztes Banner
Sie fanden den Menschenmann als die Sonne im Zenit stand.
Zuerst hielten sie ihn für tot, und wahrscheinlich würde er das auch bald sein, und all ihre Heilkunst und Arzneien, all ihre „elfischen“ Bemühungen würden keinen Unterschied machen.
Trotzdem stand es von Anfang an außer Zweifel, dass sie ihn in ihre große Feste Himmelsriff bringen würden, denn ungeachtet all ihrer Entrücktheit aus der Welt der Adamainraé, der Neuen Menschen und ihrer Nationen, so dachte Darachel, konnten die Ninraé letzten Endes noch immer keine Kreatur leiden sehen.
Vielleicht geschah das, so sann er weiter, nicht mehr aus dem ursprünglichen Sentiment des Mitgefühls heraus, sondern aus etwas Komplexerem, Zwingenderem, Fremdartigerem, zu dem dieses ursprüngliche Gefühl in der langen Zeit ihrer Verwandlung alchemisiert worden war, etwas, das ein reflexartiges Zucken im Netz ihrer sozialen Cluster auslöste, deren Gespinste sich aus der materiellen Welt weit in die Zwischenschichten erstreckten und sich in den klaren Reichen, wo es nur noch Geist und Geister gab, irgendwann verloren.
Eine der Krähen hatte ihr erstes Urteil über den Zustand des Menschenmannes offensichtlich geteilt, denn sie hatte sich schon auf seiner Schulter niedergelassen und hieb den Schnabel versuchsweise in das weiche Fleisch. Der am Boden Liegende zuckte nicht einmal mehr – insofern schien das Urteil der Krähe richtig, wenn auch etwas voreilig. Ihre Artgenossen waren vorsichtiger.
Genau wie seine eigenen, dachte Darachel und ließ seinen Blick kurz über die Schultern an der schweigenden Versammlung der Ninraé um ihn herum entlang gleiten. Ihre Blicke musterten den Menschenmann mit Anteilnahme, doch keiner trat näher oder sprach ein Wort. Nur über die Nuancen ihrer Haltungen und Gesten waren sie in einem subtilen Diskurs über ihre Einschätzung der Situation begriffen, ein Diskurs so vielschichtig wie fragil. Aber auch einer, so schien es Darachel, der unweigerlich in obskuren Kreisen gefangen blieb. Wie die Bahnen der Krähen dort oben.
Darachel beschattete die Augen und blickte hinauf zum diesig hellen Himmel, der sich von den scharfzackigen Graten des Gebirgskammes her über sie aufspannte. Die Sonne glühte hinter dem dunstigen Wolkenfilm, als wollte sie sich aufbäumen, um ein letztes Mal die bleiern durchglühte Schwere eines drückenden Sommertages heraufzubeschwören, doch fehlte es ihr zu dieser Zeit des Jahres schon an der Kraft dazu. Der Schwarm Krähen kreiste wie die vom Strudel eines Wirbelsturms ergriffenen, verstreuten, dunklen Fetzen einer zerrissenen Fahne vor dem weiß glühenden Laken der Wolkenschicht, genau über der Stelle, wo der Menschenmann lag. Die Krähen waren es auch gewesen, die ihre Gruppe erst auf ihn aufmerksam gemacht hatten.
Plump und bleiern, die Arme unter sich begraben, hing er in den Büschen, im derben Kraut der ersten Vorberge des oberen Plateaus. Getrocknetes Blut sprenkelte das Grün des Buschwerks und des Grases, das der Mann in seinem Kampf, sich so weit in diese Richtung zu schleppen, zu einer Schleifspur niedergedrückt hatte.
Was hatte ihn dazu gebracht diese Richtung einzuschlagen? Zufall, Verwirrung, reine Verzweiflung eines Sterbenden?
Oder sollte tatsächlich ein Mensch, noch dazu einer, der Überreste einer Uniform des Idirischen Reiches an sich trug, bewusst versucht haben, nach Himmelsriff zu gelangen, der verruchten Behausung der Elfen am westlichen Grabenbruch? Wenn ja, dann war er entweder sehr verzweifelt oder ein unter den jungen Völkern sehr außergewöhnlicher Mensch, sich in die Wildnis des Irrlichtlandes zu wagen.
Irrlichtland, so nannten es die Menschen. So wie sie auch die Ninraé – wie alle Völker, die ihnen selber zwar von Gestalt ähnlich, aber nicht von ihrer Rasse waren – auch einfach nur Elfen nannten. Wenn es die Menschen davon abhielt, sich ihrer Zuflucht zu nähern, dann war „Irrlichtland“ eine so gute Bezeichnung wie jede andere auch; jedenfalls war sie poetischer als die meisten, die Menschenleute im Zusammenhang mit seinem Volk benutzten.
Die Krähe ließ von dem Liegenden ab und flatterte mit empörtem Krächzen hoch in den Himmel, als Darachel näher heran trat – als erster ihrer kleinen Gruppe –, um den Menschen genauer zu betrachten. Und als hätte der einzelne vertriebene Vogel ein vorher zwar ausgewogenes, jedoch prekäres Gleichgewicht innerhalb des Schwarms zum Zusammenbruch gebracht, stoben genau
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