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Abonji, Melinda Nadj

Abonji, Melinda Nadj

Titel: Abonji, Melinda Nadj Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tauben flieggen auf
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von der Familie bedeutete, und dafür fühlten sie
sich verantwortlich, nicht nur ein bisschen, sondern ganz (Mamika, die mir ins
Ohr flüstert, denk eine Sache nicht von dir aus, sondern von allen möglichen
Seiten), und ich habe meine Eltern angeschaut, nochmals angesetzt, es hat wirklich
nichts mit euch zu tun ... habe ich gesagt und bin verstummt, weil ich einsah,
dass es keine lindernden Worte geben würde, das Wesentliche blieb unübersetzbar.
    Mutter hat dann gekocht, mein
Lieblingsessen, gebratenes Huhn mit Paprikakartoffeln, Gurkensalat mit
Sauerrahm, und zum Nachtisch gab es Palatschinken, und weil niemand wirklich
Appetit hatte, hat Mutter alles eingepackt, damit ich am nächsten und
übernächsten Tag nicht zu kochen brauche. Ich habe Vater gebeten, Kaffee zu
machen, weil ich den Kaffee, so wie er ihn zubereitet, am liebsten mag; ich
habe ihm zugesehen, beim Kaffee-Mahlen, wie er das Papier sorgfältig in die
Filterform einpasste, wie er mit seinem Daumen über den Messlöffel gefahren
ist, die Geduld, mit welcher Vater das heisse Wasser kreisend über das Pulver
goss; wir können dich in nächster Zeit nicht besuchen, sagte Vater, während der
Kaffee in die Kanne tropfte, das musst du verstehen.
     
    Um Mitternacht ziehe ich meine
Jacke an, öffne die Fenster, lüfte, die Weststrasse, die von Mitternacht bis
sechs Uhr in der Früh gesperrt ist, ich schaue links die Strasse hinunter, sehe
den Radfahrern zu, die in die Gegenrichtung radeln, manchmal freihändig,
manchmal lauthals singend, und ich rauche eine Zigarette in die kalte
Novemberluft hinaus, der Wirt des Glarnerstübli, der jetzt seine Stammkunden ins Freie scheucht,
meistens fünf Männer, die sich am Treppengeländer abstützen müssen, um die drei
Stufen heil zu überstehen; und wenn sie dann die Linde anpeilen, meine
Hausmeisterin im nächsten Moment losschimpft, schliesse ich das Fenster und
höre meinen Nachbarn, der immer noch am Üben ist, Laurent Rosset, den ich
schon in der ersten Woche, nachdem ich eingezogen bin, im Treppenhaus getroffen
habe, der mir, kaum haben wir uns vorgestellt, sein Lebensziel verraten hat,
nämlich irgendwann einmal so Gitarre spielen zu können wie Jimi. Jimi?, du
weisst nicht, wer Jimi war, es gab nur einen Jimi auf dieser Welt, und Laurent
hat mich noch am gleichen Abend zu sich eingeladen, mir seine Plattensammlung
gezeigt, seine Grasplantage auf dem Küchenbalkon, ein paar ausgewählte Bücher
über Georges Bataille und natürlich Jimi Hendrix, und: Setz dich, ich spiel dir
was vor! Wie bin ich?, Laurents Frage, nachdem er mir Jimis Hits vorgespielt
hat, Foxy lzady,
Wild Thing, Fley Joe, Voodoo Child und alles gleich nochmals, weil Laurent sich erst mal
warm spielen musste. Ich glaube, du bist schon besser als Jimi, habe ich
geantwortet. Comment?,
impossible!, ob ich ihn verarschen wolle, sagte Laurent, er werde nie besser sein
als Jimi, das wisse er; und ich, die einen gedankenlosen Spruch gemacht hatte,
bin unangenehm berührt, weil ich Laurent tatsächlich nicht ernst genommen
hatte, in seiner Liebe zu Jimi Hendrix.
    Ich streiche mir ein Brot mit
Butter, bestreue es mit Salz und Paprika, bevor ich ins Bett gehe, esse ich immer
etwas, und während dem Kauen überlege ich, ob ich noch eine Schachtel auspacken
soll, und zu den Menschen, die ich von meinem Küchenfenster aus täglich sehe,
gehört die Frau vom schräg gegenüberliegenden Haus, ich nenne sie meine bleiche
Heldin, eine zierliche Frau, die immer etwas tut, putzen, waschen, kochen,
Wäsche aufhängen, und jetzt, da es merkwürdig still ist (eine Sülle, die ich
der Strasse nicht abnehme, vermutlich, weil mein Ohr das Anfahren, Abbremsen,
Hupen, Quietschen immer noch hört), bügelt sie in ihrer Küche, und die zeitlose
Müdigkeit in ihrem Gesicht, egal, was sie tut; ich stehe auf, öffne eine
Schachtel (höchstens zwei Schachteln pro Woche auszupacken, das habe ich mir
vorgenommen), und zuoberst liegt der gelbe Briefumschlag, in dem ich meine
Fotos aufbewahre; ich, die Fotos nie einkleben oder einrahmen wollte, suche ein
paar heraus, befestige sie mit Stecknadeln über dem Kopfende meines Bettes,
ich, die kein bestimmtes Ordnungsprinzip hat, achte nur darauf, dass die Fotos
sich berühren, und als ich vierzehn war, habe ich angefangen, Fotos zu sammeln,
die meine Eltern weggeworfen hätten, "Ausschuss" steht auf dem gelben
Briefumschlag, angeschnittene Köpfe, Fotos ohne erkennbare Sujets, und ein
verwackeltes Foto mit starkem Gelbstich, das

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