Abonji, Melinda Nadj
Mutter, ich muss
dir etwas sagen, Mutter, immer noch am Personaltisch sitzend, und ich, die
stehen bleibt, in der Küchentür, klebe am Türrahmen, mit allem aufhören, mit
dem Studium, meinem Russischkurs, den Samstagabenden im Wohlgroth, vor allem
aber aufhören mit der Arbeit hier, im Mondial, verschwinden aus dieser
Gemeinde, das nette Fräulein endlich abschütteln (vielen Dank und auf
Wiedersehen!), nicht immer ähnlicher werden der Tapete, dem Teppich, der
Wanduhr, der Vitrine, und das Essen, es schmeckt nicht mehr nach uns, nein,
ich, die sich nicht setzt, will keine Wildkarte schreiben — Ildi, die so schön
und korrekt schreibt —, will verschwinden aus diesem halbierten Leben, diesem
Alltag, in dem der Dienstleistungsbetrieb zum Schicksal wird, "mundtot"
geht mir durch den Kopf, ich werde mundtot gemacht mit Sätzen wie: Ihr sollt es
einmal besser haben als wir, wir arbeiten nur für euch; setz dich, sagt Mutter,
mit einem versöhnlichen Ton, sie, die mich anschaut mit diesem Blick, den ich
so gut kenne, Augen, hinter denen sich etwas auftut, ein endloser Gang, in dem
Schritte hallen, alptraumhafte Gestalten, deren fordernde Körper vorwärts
drängen, immer näher kommen, knallende Schritte, die die Schläfen verletzen,
Mutter, die krampfhaft verhindern will, dass die gold-grün-braune Tapete Risse
bekommt, meine Gedanken, die sich nicht mehr in den gewohnten Laufbahnen
bewegen - und wenn ich es gar nicht besser haben will?, wenn ich in einem
alten, schiefen Haus leben möchte mit Gasherd, Boiler, Schützstein? Einbauschränke?,
nein, die habe ich nicht, weil sie so praktisch und hässlich sind; Mutter und
Vater, die in meiner kargen Wohnung stehen werden, so haben wir gelebt vor
fünfundzwanzig Jahren, als wir in die Schweiz gekommen sind, wie kannst du
nur?, seht mal, das Fenster, ist es nicht schön, wie das Licht durch dieses
Fenster fällt? (das Einzige, was ich will, ein schönes Fenster), Mutter, die
mir zuwinkt, Ildi, hast du nicht gehört?, und Vater, der die beiden
Küchenfenster öffnet, damit die giftigen Dämpfe des Reinigungsmittels entweichen
können, wenn wir uns jetzt nicht wehren, wenigstens versuchen, irgendwas zu
tun, dann sind wir niemand mehr, sage ich, zu Vater, zu Mutter, der Türrahmen,
der meinen Rücken stärkt (man darf sich nicht umdrehen, wenn man weggeht, seine
Heimat verlässt, entschlossen vorwärtsgehen, bereit sein, alles, was kommt,
auf sich zu nehmen; wer hat das gesagt?), Vater, der den Spritzschlauch in die
Hand nimmt, in den Dämpfer hineinzielt, sein Hinterkopf, der mir vielleicht
etwas erzählt, aber was?, ich bitte um eine Antwort, sage ich, könnt ihr mir
bitte in die Augen schauen? Mutter, die aufsteht, die paar Schritte tut, zu
mir hin, du willst eine Antwort, gut, du kannst sie haben! Vater, der den
Spritz schlauch abstellt, mit einem Spezialschwamm anfängt, das Spülbecken zu
scheuern, eine leichte Melodie, die das Radio dazu spielt, und die kalte
Herbstluft macht mich frösteln, Mutter, die sich auf den Hocker setzt, der
neben der Abwaschmaschine steht, was kommt jetzt?, und ich, die stehen bleibt,
beim Türrahmen.
Und dann gehe ich in den
Gastraum, bleibe kurz an der Theke stehen, als wollte ich etwas bestellen, ich
gehe weiter, an den Tischen vorbei, verabschiede mich von den Tischen, zwei,
fünf, zehn, elf, fünfzehn, drücke Frau Köchli und Frau Freuler die Hand, und
Frau Hungerbühler, meine liebsten Gäste, und den Bauarbeitern, deren Namen ich
nicht kenne, ihnen nicke ich zu, im Vorbeigehen, meine Schritte, die lautlos
sind auf dem Teppich, die grün lackierte Eingangstür, die offen steht, die mich
einlädt zum Weggehen, ich nehme die drei Stufen, bleibe auf dem Bürgersteig
stehen, einen kurzen Moment, gehe dann zum Kastanienbaum, ein paar Blätter, die
bereits auf dem Asphalt liegen, vom Kastanienbaum aus schaue ich ins Mondial, ich
kann fast nichts erkennen, weil die Fenster spiegeln, und ich, die ein Lied
singen möchte, aber es fällt mir keines ein, bücke mich nach einem Blatt, wäre
es anders, wenn dieses Blatt nicht hier wäre?, und ich gehe mit raschen
Schritten zur Unterführung, das trockene Geräusch meiner Turnschuhe, ob ich mir
denn schon einmal vorgestellt hätte, wie es wäre, wenn wir jetzt in der
Vojvodina leben würden, mitten im Krieg, wie denn unser Alltag aussehen würde,
fragt mich Mutter, ihre Summe, die in der Unterführung hallt, feierlich und
gross klingt, mein Kopf, der sich automatisch nach links und rechts
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