Abschaffel
Weil seine Lage unabänderlich war, mußte Abschaffel arbeiten. Er war schon mehrere Jahre in der gleichen Firma beschäftigt; er war Angestellter, und er arbeitete in einem Großraumbüro, das die Firma vor zwei Jahren eingerichtet hatte. In dem Großraumbüro saßen sich alle Angestellten in Zweiergruppen gegenüber. Zwischen den einzelnen Schreibtischkomplexen standen Gummibäume und andere Topfpflanzen, über die Abschaffel gelegentlich lachen mußte. Überhaupt war es ihm möglich, in diesem Büro sein Leben vorübergehend zu vergessen. Er mußte oft lachen, nicht nur über die Pflanzen zwischen den Schreibtischen. Er lachte über den mannigfachen Betrug, der hier mit den Angestellten getrieben wurde und der die Angestellten dazu ermunterte, sich auch selbst zu betrügen. Ein erster Höhepunkt des Betrugs waren die Berufsbezeichnungen der Angestellten; sie galten als Kaufleute, und in ihren Papieren und Zeugnissen wurden sie sogar Exportkaufmann, Importkaufmann oder Speditionskaufmann genannt. Sie telefonierten ein wenig, bis der Morgen vorüber war, oder sie füllten Formulare aus oder diktierten Briefe. Auch Abschaffel füllte Papiere aus, errechnete Frachtmargen oder bediente einen IBM-Schreibautomaten. Ruhig standen und saßen diese etwa hundert Angestellten in ihren weißen Hemden und grauen Anzugjacken da und zogen über den Knien ihre Hosen hoch, wenn sie sich setzten. Gelegentlich verschwand eine junge Angestellte in der Toilette und kam bald wieder heraus mit frisch geschminkten Lippen. Auch darüber wollte Abschaffel eigentlich lachen, aber er behielt es für sich, weil er nicht mochte, daß in diesem Büro über ihn nachgedacht wurde. Der etwa fünfzigjährige Mann, der ihm in grünlich schimmerndem Anzug gegenübersaß, war einer der Lächerlichsten im ganzen Büro. In seiner Aktentasche hatte er oft Frage- und Testbogen für Führungskräfte, die er sich aus Wirtschaftszeitschriften ausschnitt. Er füllte sie in der Mittagspause aus und schickte sie zurück an die Redaktion. Er aß Wurstbrote, schnaufte dabei und zupfte unablässig an sich herum. Wenigstens einmal am Tag hatte Abschaffel Lust, ihm zu sagen: Hören Sie auf damit, Sie werden niemals Führungskraft. Aber er sagte nichts zu ihm.
Abschaffel rauchte im Büro und drehte dabei zwischen Daumen und Zeigefinger die Haare seiner Augenbrauen. Er zwirbelte kleine Bündel zusammen und sah dann auf seine Fingerkuppen. Häufig lösten sich einzelne Haare, und Abschaffel legte sie vorsichtig nebeneinander auf den Aschenbecherrand. Manchmal steckte er sich ein einzelnes Augenbrauenhaar in den Mund, spielte eine Weile damit und zerkaute es. Abschaffel wußte, daß diese Art des Zeitvertreibs keinen guten Eindruck auf den ihm gegenübersitzenden Angestellten machte. Aber auch dieser hielt sich zurück und sagte kein Wort. Aus der dauernden Beobachtung des anderen ergaben sich große Spannungen, die mindestens einmal täglich heldenhaft unterdrückt werden mußten. Denn alle mußten arbeiten, und soviel wußte immerhin jeder: Es hatte keinen Sinn, einen Privatkrieg über zwei Schreibtische hinweg zu entfachen; das gab nur noch mehr Verdruß und am Monatsende keinen Pfennig mehr.
Wenn Abschaffel zuviel geraucht hatte, spürte er manchmal, wenn der Rauch in der Lunge hinunterzog, schon so etwas wie ein Loch, wie einen plötzlich freieren Durchzug durch den Körper, und er dachte, das Gefühl des Lochs ist das Gefühl vom Anfang einer Krankheit. Dann sah er sich rasch um, weil er einen Augenblick lang fürchtete, alle hätten dieses Loch bemerkt, und es würden ihm Nachteile daraus erwachsen. Oder er sah aus dem Fenster, das an die linke Seite seines Schreibtischs anschloß. Die Nähe des Fensters war ein großer Vorteil. Die wenigsten Schreibtischpaare waren um das Fenster herum aufgebaut; die meisten anderen standen verstreut im Saal, und wer an einem solchen Tisch arbeiten mußte, konnte sich noch nicht einmal durch einen Blick nach draußen ablenken. Wer in der Tiefe des Großraumbüros arbeitete, mußte unter irgendeinem geschäftsmäßigen Vorwand einen Kollegen aufsuchen, der seinen Schreibtisch am Fenster hatte. Das geschah oft. Wenn sich Abschaffel zu lange langweilte, ging er auf die Toilette und wusch sich die Hände mit sehr langsamen Bewegungen. Die Langeweile der Angestellten ist der Grund für ihre Sauberkeit. Man wäscht sich, wenn man sonst nichts mehr weiß. Und während des Händewaschens war er darum besorgt, daß kein
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