Abschaffel
erzählen, sich dann aber vollkommen zurückziehen? Oder sollte er schon anfangen, so zu tun, als könnte oder müßte er jederzeit zu einem neuen Kuraufenthalt aufbrechen? Er ging in die Küche und machte sich eine Tasse Kaffee. Er trug Milch und Zucker in das Zimmer und wartete, bis er das Wasser in der Küche kochen hörte. Besonders im Frühjahr steckte das Büro voller heimlicher Kränkungen. Das Frühjahr war die Zeit der Gehaltserhöhungen. Ajax, der Chef, wartete jedes Jahr die Tariferhöhung im Februar ab, um danach zusätzliche Gehaltserhöhungen für einzelne Angestellte zu fixieren. Die beiden Referenten machten ihm Vorschläge, und Ajax entschied endgültig. Wer eine Gehaltserhöhung bekam, wurde von der Sekretärin, Frau Morlock, ins Chefzimmer gerufen. Im Chefzimmer übergab ihm Ajax einen Briefumschlag mit einem von Frau Morlock geschriebenen Brief, in dem stand, wieviel Gehaltserhöhung der Angestellte erhalten hatte. Der ausgezeichnete Kollege mußte sich bei Ajax bedanken und durfte dann, mit dem Briefumschlag in der Hand, das Chefzimmer verlassen und an seinen Platz zurückkehren. Natürlich waren es immer nur wenige Kollegen, die über die Tariferhöhung hinaus persönliche Gehaltserhöhungen bekamen, aber alle konnten sehen, wer die wenigen waren, und alle, die nichts abbekommen hatten, ÄRGERTEN SICH IM STILLEN . Auch Abschaffel ärgerte sich, wenn er nicht bedacht worden war, und dann gehörte er zu denjenigen, die in der Mittagspause die Gehaltserhöhung der anderen schlechtmachten: Von diesen 80 oder 100 Mark, die es maximal waren, schluckten das Finanzamt und der Staat eh die Hälfte, die Sozialversicherung knappte auch noch einen Zehner für sich ab, und was blieb dann? Einmal Volltanken und eine Schachtel Zigaretten, das war’s dann. So höhnten die, die leer ausgegangen waren, über die anderen, die wenigstens so viel abbekommen hatten, daß sie in der Hand etwas spürten: einen Tag lang.
Das Wasser kochte, und Abschaffel brühte den Kaffee auf. Er setzte sich an den Tisch im Zimmer und sah aus dem Fenster. Wahrscheinlich entschied er sein Verhalten erst am Montagmorgen an Ort und Stelle. Das paßte ihm zwar nicht, aber er konnte es nicht ändern.
Über den Autor
Wilhelm Genazino
Wilhelm Genazino, 1943 in Mannheim geboren, lebt in Frankfurt. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Georg-Büchner-Preis und dem Kleist-Preis. Bei Hanser erschienen zuletzt die Romane Mittelmäßiges Heimweh (2007), Das Glück in glücksfernen Zeiten (2009), Wenn wir Tiere wären (2011) und Die Liebe zur Einfalt (Neuausgabe, 2012).
Daten, Fakten, Jahreszahlen
1943 geboren in Mannheim
Nach dem Abitur arbeitete er zunächst als freier Journalist, dann als Redakteur bei verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt bei der Satire-Zeitschrift Pardon .
Studium der Germanistik, Soziologie und Philosophie
seit 1971 ist er als freier Schriftsteller tätig
seit 1990 Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt
2004 wurde er in die Bayerische Akademie der Schönen Künste gewählt
2011 wurde der Autor in die Berliner Akademie der Künste aufgenommen
Wilhelm Genazino lebt in Frankfurt.
Auszeichnungen
• 2010 Rinke-Sprachpreis
• 2007 Heinrich-von-Kleist-Preis
• 2004 Hans-Fallada-Preis
• 2004 Georg-Büchner-Preis
• 2003 Kunstpreis Berlin
• 2001 Kranichsteiner Literaturpreis
• 1998 Großer Literaturpreis der Bayerischen
Akademie der Schönen Künste
• 1990 Bremer Literaturpreis
• 1986 Westermanns Literaturpreis
Bibliographie
Im Carl Hanser Verlag sind erschienen
2001 Ein Regenschirm für diesen Tag. Roman
2003 Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman. Roman
2004 Der gedehnte Blick. Essays
2005 Die Liebesblödigkeit. Roman
2006 Die Belebung der toten Winkel. Frankfurter Poetikvorlesungen
2006 Lieber Gott mach mich blind / Der Hausschrat. Zwei Theaterstücke
2007 Mittelmäßiges Heimweh. Roman
2007 Die Obdachlosigkeit der Fische. Roman (Neuausgabe)
2009 Das Glück in glücksfernen Zeiten. Roman
2011 Wenn wir Tiere wären. Roman
Weitere Veröffentlichungen (Auswahl)
1977 Abschaffel. Eine Trilogie
1989 Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz. Roman
1992 Leise singende Frauen. Roman
1994 Die Obdachlosigkeit der Fische. Roman
1996 Das Licht brennt ein Loch in den Tag. Roman
1998 Achtung Bausstelle.
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