Abscheu
über meiner Familie schwebt, zu ignorieren – oder besser: mir weiszumachen, es sei verschwunden. Nur schlafen kann ich noch nicht wieder richtig. Heute Morgen bin ich schon wieder wie zerschlagen aufgestanden. Meine Glieder waren schwer wie Blei, genau wie meine Augenlider und mein Kopf, und ich erschrak vor meinem Spiegelbild im Badezimmer. Blass, aschfahl, mit dunklen Rändern unter den Augen und einem verhärmten Zug um den Mund. Ich habe eine dicke Schicht Make-up aufgetragen, um meine Blässe so gut es ging zu verbergen.
Natalie wühlt durch ihre schulterlangen, dunkelbraunen Locken. Ich weiß, dass sie an ihren Haaren nichts zu tun braucht. Sie wäscht sie, lässt sie lufttrocknen und fertig. Ich bin jeden Morgen eine halbe Stunde lang mit Wicklern, Nadeln und vor allem Haarlack beschäftigt, bevor ich mich vorzeigbar finde. Wenn ich meine Haare offen trage, sehe ich schnell aus wie eine Landstreicherin. Aber davon ahnt Natalie nichts.
»Keinen Sex«, höre ich sie sagen. »Na klar. Das würde ich auch behaupten, wenn ich du wäre. Aber leider weiß ich es besser.«
Es dauert einen Augenblick, bevor ich sie verstehe. Sie spielt auf ein ziemlich offenes Gespräch an, das wir vor einigen Monaten geführt haben. Ich vermute, dass ich ihr damals zu viel verraten habe. »Vielleicht kann ich auch nur sehr gut lügen«, sage ich und falte gespielt abwesend ein Türmchen aus meinem Zuckertütchen.
»Das war gelogen? Dass ihr ein- bis zweimal pro Woche Sex habt? Dass Harald den Boden anbetet, auf dem du gehst?« Sie spricht ein klein wenig zu laut. Die Leute am Nebentisch werden hellhörig. Zwei Gläser Alkohol so früh am Tag sind für Natalie offensichtlich zu viel des Guten.
Der Kellner, Typ Student mit Grübchen in den Wangen, kommt an unseren Tisch und räumt die Gläser ab. »Noch ein Glas Champagner, Kaffee, etwas anderes?«
»Vielen Dank. Für mich vorerst nichts«, antworte ich.
»Drinnen decken wir jetzt für das Mittagessen, aber Sie können auch gerne draußen sitzen bleiben, wenn Ihnen das lieber ist.«
Natalie starrt den jungen Mann über ihre knallrote Brille hinweg an und schaut dann hinauf zum Himmel über den alten Gebäuden. Ich folge ihrem Blick. Der Himmel ist noch immer blau, aber graue Wolken treiben langsam in unsere Richtung. Für heute Nachmittag ist Regen vorhergesagt. Die Leute neben uns glotzen uns immer noch an.
Natalie sucht meinen Blick. »Woran denkst du?«
Ich stehe auf und nehme meine Tasche von dem Stuhl neben mir. »Lass uns reingehen. Da ist es ruhiger.«
In dem Restaurant sind die Tische mit rosafarbenen Tischtüchern gedeckt. Wir werden zu Plätzen am Fenster geführt und bekommen die Speisekarte, eine einfache, laminierte Kladde. Da wir öfter hierherkommen, brauche ich die Karte nicht zu lesen, um zu wissen, was ich bestellen möchte.
Gleich nachdem Natalie mir gegenüber Platz genommen hat, legt sie mir ihre manikürte Hand auf den Unterarm und schüttelt den Kopf. Ihre Locken tanzen. »Entschuldige bitte. Ich habe dummes Zeug geredet. Es war nicht so gemeint. Ich würde mein freies Leben niemals aufgeben wollen, das weißt du doch. Solange Florian Unterhalt zahlt und ich in dem Haus wohnen bleiben kann, möchte ich mit niemandem tauschen. Nicht einmal mit dir.«
Ich lächele nur und erwidere wohlweislich nichts.
»Wie geht es eigentlich deiner Mutter?«
Ich setze zu einer Antwort an, aber wir werden vom Kellner unterbrochen. Ich bestelle das Gleiche wie immer: Rindercarpaccio mit einer extra Portion Salat und wenig Käse. Natalie nimmt eine doppelte Portion Krabbenkroketten mit hausgemachter Wasabimayonnaise und bestellt ein drittes Glas Champagner, denn sie kann zu Fuß nach Hause gehen und braucht heute nicht mehr zu fahren. Verstohlen betrachte ich sie von Kopf bis Fuß. Sie ist auf eine elegante Weise zierlich und kann dennoch essen, was sie will. Ich wiege nicht viel mehr als sie, aber um meine Figur zu halten, gibt es Tage, an denen ich weniger essen darf als Fleur oder Charlotte.
»Ich habe sie letzte Woche besucht«, antworte ich, nachdem der Kellner verschwunden ist. »Sie schlägt sich tapfer, wie immer, aber in ihrem Alter wird das Haus nun mal allmählich zu groß für sie. Allein schafft sie es nicht mehr, es instand zu halten. Dabei ist es ein wirklich schönes Haus, weißt du. Noch von Kromhout entworfen. Du kennst doch Kromhout, oder?«
»Ein Architekt, nehme ich an?«
»Der beste. Häuser wie das meiner Mutter gibt es nicht mehr viele im
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