Abscheu
ein Sprechzimmer aufgeteilt, die durch eine Glaswand voneinander getrennt sind. Haralds Büro liegt darüber, im ersten Stock. Bevor ich die Wendeltreppe hinaufsteige, sehe ich, dass das Sprechzimmer besetzt ist.
Anton Luijten, Haralds langjähriger Mitarbeiter, unterhält sich mit einem Kunden, der mit dem Rücken zu mir sitzt. Anton ist vor Kurzem sechzig geworden und erinnert mich immer ein wenig an John Cleese. Als er mich sieht, hebt er den Kopf und lächelt mir zu. Ich sehe, wie sich seine Lippen bewegen. Er scheint seinem Besucher gegenüber eine Bemerkung über mich zu machen.
Der Kunde legt eine Hand auf die Armlehne seines Stuhls, dreht sich um und sieht mich über die Schulter hinweg an. Kaum hat er mich im Blick, gefriert das Lächeln auf seinem Gesicht.
Ich bleibe stocksteif stehen.
Alle Geräusche in meiner Umgebung scheinen mich mit Verzögerung zu erreichen. Ein Telefongespräch, das die Empfangsdame im Foyer führt. Das Summen eines Druckers in der ersten Etage.
Das Entsetzen muss mir ins Gesicht geschrieben stehen.
Dunkle Augen in einem gebräunten, harten Gesicht. Grau melierte Haare, sehr kurz geschnitten, wie bei einem ehemaligen Soldaten. Eine Sonnenbrille leger auf den Kopf geschoben.
Chris.
Zehn Jahre älter als damals, bei unserer letzten Begegnung, aber er ist es, unverkennbar.
Nach einem Augenblick, der meinem Gefühl nach mindestens eine halbe Stunde dauert, umklammere ich das Geländer der Wendeltreppe und drehe mich von ihm weg. Die schmiedeeiserne Treppe schwingt beim Hinaufsteigen immer leicht mit, aber jetzt scheint sie regelrecht auf und ab zu wippen.
An der ersten Biegung schlage ich die Augen nieder, um Chris nicht ansehen zu müssen, aber unwillkürlich spähe ich durch die Wimpern, erschrocken, ganz kurz nur, und wieder begegnen sich unsere Blicke.
Aus seinen Augen spricht eine Mischung aus Neugier und Schadenfreude. Er dreht sein Gesicht so, dass Anton ihn nicht sehen kann, und zieht die Mundwinkel hoch. Ein unangenehmes, gefährliches Grinsen. Bedrohlich, wie eine sexuelle Belästigung.
Er hat mich wiedererkannt.
3
»Okay, jetzt du«, sage ich. »Acht mal acht.«
Mir gegenüber am Teakholztisch sitzt Fleur. Ihr blasses Gesichtchen blickt ernst, und sie runzelt die Stirn.
»Darf ich? Darf ich?«, drängelt Charlotte, die neben mir am Tisch steht.
Ich schüttele den Kopf und lege den Zeigefinger an die Lippen.
»Vierundsechzig«, sagt Fleur nach einiger Überlegung.
»Und jetzt vier mal acht.«
»Äh … zweiunddreißig.«
»Gut! Sechs mal acht.«
Zwischen Fleurs weißblonden Augenbrauen bildet sich eine steile, dünne Sorgenfalte. Sie sagt nichts.
»Fünf mal acht ist vierzig, sechs mal acht ist …?«
Hoffnungsvoll blickt sie auf. »Achtundvierzig?«
»Prima.« Ich greife nach einem karierten Block, nehme einen Stift aus Fleurs Mäppchen und schiebe beides über den Tisch zu ihr hinüber. »So, Schatz, und jetzt schreibe bitte alles noch einmal auf. Die ganze Achterreihe.«
Fleur ist mit meinen Vorkriegslehrmethoden offensichtlich nicht einverstanden. Sie seufzt und legt Arme und Oberkörper theatralisch auf den Tisch.
Aber ich lasse mich nicht erweichen. Ich betrachte es als meine Aufgabe, das Äußerste aus ihr herauszuholen. Harald und ich sind der Meinung, dass sie ihre Kapazitäten nutzen sollte. »Komm schon, das dauert doch nur eine Minute, danach darfst du fernsehen. Okay?«
Widerwillig zieht sie Stift und Papier zu sich hin und fängt an, die Reihen aufzuschreiben. Ihre kleine Schwester ist weggegangen und sitzt jetzt an Harald gekuschelt auf dem Sofa. Er trinkt eine Tasse Kaffee und hat einen Arm um sie gelegt.
Nichts weist darauf hin, dass Harald heute schockierende Tatsachen über seine Frau erfahren hat.
Beim Essen hat er sich wie immer verhalten. In der Stunde davor, während der wir im Wohnzimmer zusammen ein Glas Chablis getrunken haben, hat er sogar mit einem Auge ferngesehen. Nach dem Essen hat er im Financiele Dagblad gelesen, danach kurz das Reformatorisch Dagblad durchgeblättert. Wir beide sind zwar nicht gläubig, dafür aber viele von Haralds Kunden aus der Umgebung. Mit Fleur und Charlotte hat er auf dem Rasen hinter dem Haus herumgetobt. Nein, Harald hat heute keine erschütternden Neuigkeiten über seine liebende Gattin erfahren. Nichts weist darauf hin.
Aber das will nicht viel heißen.
Ich kann nicht ausschließen, dass Chris Anton gegenüber etwas gesagt hat und dass Anton in diesem Moment fieberhaft mit seiner Frau
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