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Abscheu

Abscheu

Titel: Abscheu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Verhoef
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blickt an mir vorbei hinaus auf den Flur. »Haben sie schon gefrühstückt?«
    »Nein.«
    »Dann gehe ich mit ihnen zum Schloss, und wir veranstalten ein Morgenpicknick. Das hatte ich ihnen schon beim letzten Mal versprochen, aber da hat es zu stark geregnet.« Sie blickt mich entschlossen an. »Tu du nur, was du tun musst. Ich kümmere mich um alles andere.«
    »Danke, Mama«, flüstere ich. »Wenn du nicht hier wärst, wüsste ich nicht, was ich tun sollte.«

48
    Harald schläft noch immer, als ich vom Fenster in Fleurs Zimmer aus meine Mutter und die Kinder unsere Auffahrt entlanggehen sehe. Fleur trägt einen Rucksack, Charlotte fährt auf ihrem neuen Fahrrad, und meine Mutter hält eine große Einkaufstasche in der Hand. Die Mädchen schwatzen und machen fröhliche Gesichter. Unverhofft schulfrei! Mit Oma am Schloss picknicken! Tolle Sache. Meine Mutter tut alles, um sie in der Illusion zu wiegen, alles sei ein großer Ferienspaß. Und ich weiß, dass es ihr gelingen wird.
    Ich wende mich vom Fenster ab und gehe den Flur entlang zu unserem Schlafzimmer. Im Inneren bin ich eisig ruhig, ruhiger, als ich erwartet hatte. Ich will jetzt nur noch Antworten. Klarheit.
    Ich öffne die Tür und schlage sie mit einem lauten Knall hinter mir zu. »Warum muss ich sterben?«, rufe ich aufgebracht.
    »Häh?« Harald blinzelt mit den Augen, noch im Halbschlaf.
    »Du hast mich genau verstanden, Harald van Santfoort: Warum willst du, dass ich sterbe?«
    Er reagiert zunächst nicht. Ich frage mich, ob es eine Taktik von ihm ist, ob er seine Antwort hinauszögert, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. Nein, ich glaube nicht.
    »Warum bist du dabei, meine Trauerfeier vorzubereiten?«, fahre ich in demselben giftigen Ton fort.
    Jetzt setzt er sich im Bett auf. Er trägt ein grau gestreiftes T-Shirt und eine Boxershort aus demselben Stoff. Das Set haben wir letztes Jahr in Frankreich gekauft, als wir dort im Winterurlaub waren. Seine dunklen Haare sind auf einer Seite ein wenig platt gedrückt, und er hat Abdrücke von Kopfkissenfalten im Gesicht. Er blinzelt, sagt aber nichts.
    »Todesanzeigen!«, schreie ich. Von meiner anfänglichen Ruhe ist wenig übrig. Ich rege mich immer mehr auf. »Eine Rede, verdammt noch mal. Wind beneath my wings . Bist du verrückt geworden?«
    Er fährt sich mit den Fingern durch die Haare, von der Stirn bis in den Nacken. Starrt reglos eine Stelle auf dem Deckbett an. Aus seiner Haltung spricht Schuldbewusstsein.
    »›Claire, ich weiß nicht, wie wir ohne dich weiterleben sollen‹?«, wiederhole ich die Worte aus dem Entwurf seiner Rede. Und dann: »›Die schönsten Blumen werden zuerst gepflückt‹?«
    »Ich … Es war …« Er hält sein Gesicht von mir abgewendet und streicht eine Falte im Deckbett glatt.
    In einem Reflex beuge ich mich nach vorn, greife nach dem Deckbett und ziehe es mit einem kräftigen Ruck von ihm weg. »Ich stehe hier!« Heftig zeige ich auf mich, mit beiden Händen. »Hier! Rede mit mir, nicht mit diesem verdammten Deckbett!«
    Plötzlich springt er auf. Mit wenigen Schritten marschiert er auf mich zu. Er überragt mich bei Weitem.
    Er deutet mit dem Zeigefinger auf mich, seine dunklen Augen blitzen. »Du …! Du!«
    Ich straffe die Schultern, recke mein Kinn hoch und sehe ihn an. »Was ist mit mir?«, frage ich ruhig und verschränke die Arme vor der Brust.
    »Du hast mich angelogen!«
    »Inwiefern?«
    Plötzlich blickt er sich um, als werde er sich jetzt erst bewusst, wo er ist. »Wo sind die Kinder?«
    »Die hat meine Mutter mitgenommen«, antworte ich. »Sie sind spazieren gegangen. Inwiefern habe ich gelogen?«
    »Du hast mir diesen Marius verschwiegen!«, ruft er und verzieht dabei das Gesicht, als schmerze es ihn schon, nur den Namen auszusprechen.
    Ich erschrecke und weiche zurück.
    Marius. Dieser Verräter, dieser Judas.
    »Ma-ri-us«, wiederholt er und verzieht erneut das Gesicht zu einem widerlichen Grinsen.
    »Was ist mit Marius?« Ich vermute, dass ich schon wesentlich weniger selbstsicher klinge als noch kurz zuvor.
    »Er hat mir einiges über dich erzählt.«
    Judas, Judas, Judas! »Was hat er dir erzählt?«
    Harald wird von heftigen Emotionen geschüttelt. »Warum hast du es mir nie gesagt, Claire?«, ruft er heiser. »Warum nicht?«
    »Harald, wovon redest du denn in Gottes Namen?«
    Er läuft rot an, und ich sehe die Adern und Sehnen an seinem Hals hervortreten. »Dass du … Dass du …« Er dreht sich abrupt von mir weg, nimmt ein Buch von seinem

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