Abscheu
Bildschirm, lesen die Wörter und Sätze, aber mein Verstand weigert sich, ihre Bedeutung zu akzeptieren. Ich werde zittrig. Dann reiße ich mich aus meiner Erstarrung und scrolle weiter hinunter. Dann wieder hinauf. Ich bekomme einen trockenen Hals und Ohrensausen. Mein Herz klopft immer lauter und drängender in meiner Brust, bis mein ganzer Körper zu pulsieren scheint.
Claire.doc ist eine selbst entworfene Todesanzeige. Überschrift: »Die schönsten Blumen werden zuerst gepflückt«. Laut der Anzeige sterbe ich noch in diesem Jahr, das genaue Datum fehlt noch. Die trauernden Hinterbliebenen sind Harald, Fleur, Charlotte und meine Mutter. Auf der zweiten Seite des Dokumentes finde ich eine ähnliche Anzeige, diesmal von den Angestellten der Firma.
Auf der dritten und letzten Seite des Dokumentes stoße ich auf eine Reihe loser, unzusammenhängender Sätze in Kursivschrift:
Claire, du warst meine Familie, meine ewig dauernde Liebe, meine Sonne und mein Mond. Mein Ein und Alles.
Ich weiß nicht, wie wir ohne dich weiterleben sollen, aber wir werden es müssen.
(Abschließen mit »The wind beneath my wings«, Nana Mouskouri?)
Ich kann es nicht fassen. Was treibt Harald da in Gottes Namen? Irgendein morbides Spielchen? Ist er verrückt geworden?
Wahnsinnig?
Warum bereitet er meine Trauerfeier vor? Zwei Anzeigen, ein Entwurf für eine Rede – warum soll ich sterben?
Ich schlage die Hand vor den Mund und blicke wie erstarrt auf den Bildschirm. Lese immer wieder dieselben Sätze. Die Tränen treten mir in die Augen, und mir läuft es eiskalt den Rücken hinunter.
Wie soll ich darauf reagieren?
Ich höre Schritte auf der Treppe, springe auf und spähe durch den Türspalt. Es sind Fleur und Charlotte, schlaftrunken, im Nachthemd, mit wirren Haaren. Ohne sich umzusehen laufen sie weiter ins Wohnzimmer.
Ich eile zurück an den Schreibtisch, fahre mit ein paar schnellen Tastendrücken den Laptop herunter und lege ihn zurück in die Schublade.
Quälend langsam ticken die Sekunden vorüber, während ich am Schreibtisch sitze und ins Leere starre. Ich lausche meinem eigenen Atem und meinem Herzschlag. Ich mag eine Meisterin im Verdrängen sein, aber dies hier kann ich unmöglich ignorieren. Ich muss Harald darauf ansprechen. Heute noch. Unverzüglich.
Ich sehe auf die Uhr. Schon zehn nach sieben.
Ich stehe auf und gehe nach oben. Aus dem Wäscheschrank im Flur nehme ich saubere Kleider für Fleur und Charlotte, klopfe an die Tür des Gästezimmers und öffne sie, ohne eine Antwort abzuwarten. Schließe sorgfältig die Tür hinter mir.
Bambi springt schwanzwedelnd vom Bett und umkreist mich fröhlich. Meine Mutter liegt auf dem Rücken, die Augen mit einer Schlafmaske abgedeckt.
»Mama?«
Sie schreckt auf und zieht die schwarze Maske auf die Stirn. »Liebling?« Dann schaut sie mit zusammengekniffenen Augen auf den Wecker. Sie sieht, dass es noch früh ist, und blickt verwirrt zu mir auf. »Was ist denn los?«
Ich setze mich auf das Bett und umklammere den dünnen Stapel Kleidung auf meinem Schoß. Versuche, leise zu reden. »Mama, ich habe Probleme mit Harald. Große Probleme.«
»Ach, Schätzchen, das haben –«
»Ernsthafte Probleme.« Mir läuft eine Träne über die Wange, die ich wütend wegwische.
Meine Mutter ist plötzlich hellwach. Sie setzt sich aufrecht hin, zieht die Augenmaske vom Kopf und legt sie neben sich. »Schlägt er dich?«, fragt sie streitlustig.
»Nein.«
»Hat er eine Freundin?«
»Vielleicht, ich bin mir nicht sicher. Aber es ist wirklich etwas sehr … sehr Ernstes. Ich muss mit ihm darüber reden. Es duldet keinen Aufschub.«
Sie blickt mich erschrocken an. Dann wandert ihr Blick wieder zum Wecker. »Wo sind Fleur und Charlotte?«
»Die sind schon unten, ich glaube, sie sehen fern oder spielen mit der Wii. Sie müssen heute einfach mal zu Hause bleiben. Ich kann sie nicht zur Schule bringen. Könntest du sie bitte waschen und anziehen?« Ich lege die saubere Kleidung auf den Bettkasten neben dem Bett. »Hier sind saubere Sachen für sie. Und könntest du bitte dafür sorgen, dass sie unten bleiben? Und könntest du, falls du uns streiten hörst …«
Sie schlägt die Decke beiseite und stellt die Füße neben das Bett. »Wo finde ich die Telefonnummer der Schule?«
»An der Pinnwand im Wirtschaftsraum hängt ein Zettel, blau, mit einem Clown darauf. Aber ich kann auch selbst –«
»Konzentriere du dich jetzt mal auf deine Ehe und überlass alles andere mir.« Sie
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