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Abschied von Chautauqua

Titel: Abschied von Chautauqua Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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gegen die Fenster flog, bis Emily mit einer Zeitschrift Jagd auf sie machte.
      Arlene war hinter einem silbernen Tankwagen eingezwängt. Ein Strom von Autos brauste links an ihnen vorbei, während Arlene hektisch in die Spiegel und über die Schulter blickte. Dann bot sich eine Lücke. Im letzten Moment sagte Arlene: «Das schaffe ich nicht», und blieb auf ihrer Spur. Sie wartete, bis alle überholt hatten, blinkte dann ungelenk und zog an dem Lastwagen vorbei, in dem sie ihr verzerrtes Spiegelbild sahen. Auf einem grünen Schild an dem Lastwagen stand ÄTZMITTEL. Daneben, auf einem anderen Schild, war ein Reagenzglas abgebildet, aus dem eine Flüssigkeit auf eine vor Schmerz bebende Hand tropfte.
      «Niedlich.»
      «Was ist niedlich?», fragte Arlene, die sich auf ihre Fahrbahn konzentrierte.
      Emily erklärte es ihr.
      «Was glaubst du, was die transportieren?»
      «Irgendeine industrielle Säure, denke ich.»
      So eine Antwort - unverbindlich, aber vielversprechend - hätte Henry nie gegeben. Emily hatte keine Ahnung, was sich in dem Tank befand, und es war ihr auch egal. Irgendeine Chemikalie. Der Fahrer brachte sie zu einer Fabrik, dort wurde etwas hergestellt, das die Leute kauften und zu Hause aufstellten und benutzten, bis es kaputtging, auf den Dachboden verbannt oder verkauft und schließlich weggeworfen wurde, und dann verrostete es auf einer Schutthalde oder verrottete auf einer Mülldeponie unter einem Berg von Abfall, während Tag und Nacht weitere Lastwagen vorbeirollten.
      Rechts lag ein totes Tier am Straßenrand. Ein geflecktes Hirschkalb, der Hals widernatürlich zurückgebogen, die Nase mit schwarzem Blut bedeckt, Blutspuren auch auf der Straße. Arlene hatte es offenbar gesehen, sagte aber nichts - vermutlich, um Emily zu schonen.
      Sie wollte etwas sagen, wollte Arlene daran erinnern, dass sie ein Mädchen vom Lande war und aus einer Familie begeisterter Jäger stammte, dass sie es kannte, wenn die Nebenstraßen im Frühling und Herbst mit fetten, durchnässten Beutelratten und platt gefahrenen Waschbären übersät waren. Sie hatte sich wirklich an den Tod gewöhnt. Auf der Welt gab es genauso viel Totes wie Lebendiges. Noch mehr. Überall, wo man hinschaute, waren Friedhöfe, vertrocknete Blätter, leblose Fliegenkörper. Und doch drehte sich die Welt weiter, so grün und geschäftig wie immer.
      Nicht der Tod rührte sie im Stillen zu Tränen, sondern Trennung. Beim Fernsehen musste sie immer schniefen und sich die Augen wischen, wenn Soldaten aus Zügen winkten, Mütter ihre Kinder in Schulbusse setzten oder es auf Kreuzfahrtschiffen Konfetti regnete. Es musste gar kein fesselnder Film sein. Der Werbespot einer Telefongesellschaft genügte schon. Und die Qualität spielte keine Rolle - es konnte eine ganz augenfällige, manipulierende, sepiabraun eingefärbte Zeitlupe sein, und doch war Emily hinterher völlig mitgenommen. Das war komisch, denn im wirklichen Leben bereitete ihr ein Abschied keine Probleme, sie verabschiedete sich einfach und ging (das führte sie auf die strengen lutheranischen Grundsätze ihrer Mutter zurück). Sie und Henry hatten ein Jahr Zeit gehabt, sich voneinander zu verabschieden, und sie war zufrieden damit, wie sie es bewerkstelligt hatten. Es hatte nichts mehr zwischen ihnen gestanden, sie hatten sich alles gesagt. Aber warum quälten sie dann diese klischeehaften Szenen so sehr?
      «Ich hab Pappteller mitgenommen», sagte Arlene.
      «Ich auch. Wie steht's mit Servietten?»
      Nach ihrer Ankunft mussten sie beim Golden Dawn einkaufen gehen.
      «Wir sollten eine Liste machen.» Emily kramte in ihrer Handtasche. «Papiertücher, Film ... was noch?»
      Kuchen von einem Stand an der Straße. Es war noch eine Woche lang Brombeerzeit. Mit dem Mais konnten sie noch bis morgen warten und dazu im Lighthouse zwei gegrillte Hähnchen besorgen. Mussten sie anrufen und welche vorbestellen? Wahrscheinlich, denn es war Wochenende. Pfirsiche. Tomaten. Außerdem mussten sie noch zu dem Käseladen fahren und ein großes Stück von dem extra scharfen Cheddar holen, den die Kinder so gern aßen.
      Eine lange Autofahrt, die Klimaanlage machte es langsam zu kalt. Wald, Krähen, Polizei. Sie war die Strecke schon so oft gefahren, und doch gab es immer noch Überraschungen. Sie hatte die Scheune vergessen, die sie den Kindern immer gezeigt hatten, als sie noch klein waren, die ausgeblichene Reklame matt, aber noch lesbar: KAUEN SIE MAIL

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