Acacia 01 - Macht und Verrat
Halsmuskeln. Selbst seine Gesichtszüge hatten etwas kraftvoll Gespanntes. Seine Augen waren von einem so tiefen Braun, dass sie beinahe schwarz wirkten. Seine Brauen waren ähnlich geformt wie die gewöhnlicher Menschen, jedoch vorgewölbt wie im Brechen begriffene Meereswogen. Darin steckten mehrere dicke Silberringe, so tief hineingetrieben, dass das Metall wohl den Knochen durchbohrt haben musste. Rialus fand es beinahe unmöglich, dem Fremden ins Gesicht zu schauen. Doch sobald er den Blick abwandte, konnte er nicht widerstehen, wieder hinzusehen, und jedes Mal erschrak er aufs Neue darüber, dass das Wesen ihn hinter dieser furchterregenden Maske hervor anstarrte. Der Fremde war ein Mensch und doch auch wieder nicht.
Als Rialus erklärte, ein Schreiber der Mein habe ihnen als Dolmetscher gedient, erhob sich am Tisch bestürztes Gemurmel. »Hanish Mein kennt dieses Volk?«, fragte Guldan.
Rialus meinte, davon müsse man wohl ausgehen, und fuhr fort: »Calrach hat keinerlei Entschuldigung vorgebracht. Keine Erklärung und keine Rechtfertigung. Er hat lediglich gesagt, wir müssten abziehen. Cathgergen gehöre uns nicht länger. Man habe den Numrek die Stadt versprochen. Mich ließe er ziehen, damit andere von dem Feind erfahren sollten, der über sie kommen würde, und besser gerüstet wären, ihnen Kurzweil zu bieten.«
»Von wem ist ihm Cathgergen versprochen worden?«, erkundigte sich einer der aushenischen Berater.
Rialus zog die schmalen Schultern bis an die Ohren hoch. »Das weiß ich nicht, aber wir waren nicht in der Position, weitere Auskünfte zu verlangen. Er meinte, ich solle zu meinem Volk eilen und ihnen sagen, das Ende sei gekommen. Sie würden uns zum Vergnügen jagen und am Spieß rösten.«
»Das kann nicht Euer Ernst sein!«, sagte der König. »Rialus Neptos, seid Ihr wahnsinnig? Was Ihr da sagt, ist unglaublich.« Der Monarch schien den Faden seiner Gedanken zu verlieren, fand jedoch seine Stimme wieder, indem er zu seiner letzten Frage zurückkehrte. »Seid Ihr wahnsinnig?«
Der Gouverneur konnte sich durchaus vorstellen, dass er den Verstand verloren hatte. Dergleichen hätte er im Rahmen seiner üblichen Lügen niemals ersinnen können. Calrach hatte genau diese Worte gebraucht. Er hatte dagesessen, mit seinen Generälen gescherzt und die abscheulichsten Dinge gesagt, als hätte Rialus nicht zitternd vor ihm gestanden und als hätte ihm der Dolmetscher nicht jedes einzelne Wort ins Ohr geflüstert. Rialus hatte die Knie zusammenpressen müssen, sonst hätte er die Kontrolle über seine Blase verloren. Als er an diesen Augenblick dachte, beneidete Rialus jäh all jene, die noch nicht gesehen hatten, was er erblickt hatte.
Die Aushenier hatten viele Fragen. Sie wussten, dass sie das nächste Angriffsziel der Fremden sein würden, und sie horchten den vertriebenen Gouverneur nach weiteren Einzelheiten aus, nach seiner Einschätzung der Lage und seinen Vermutungen. Allmählich fand Rialus Gefallen an der Rolle des geschätzten Beraters – mehr hatte er sich nie gewünscht. Doch so sehr er versucht war, zu bleiben und den Ausheniern aufrichtig behilflich zu sein, standen ihm doch Maeanders und Calrachs Gesichter vor Augen. Sie verhinderten, dass er schwach wurde, und deshalb erklärte Rialus seinen Gastgebern, es sei seine Pflicht, nach Alecia weiterzureisen. Guldan ließ ihn ziehen und gab ihm die hochtrabende Botschaft mit auf den Weg, die aushenischen Soldaten würden der Horde schon zu begegnen wissen. Welch hehre Absichten!, dachte Rialus. Doch wie so viele hochfliegende Vorsätze hatten sie nicht mehr Gewicht als die Atemluft, mit der sie ausgestoßen wurden. Rialus hatte nicht den geringsten Zweifel, dass Aushenia innerhalb von zwei Wochen fallen würde, spätestens in einem Monat. Diese Einschätzung behielt er natürlich für sich.
An Bord eines Schiffes der königlichen Flotte verließ Rialus das Königreich und beobachtete die geschäftigen Kriegsvorbereitungen am zurückweichenden Ufer. Er war zufrieden mit sich, ein Gefühl, das ihn fast bis zum Platzen erfüllte, als er die Hauptstadt erreichte. Seit einem kurzen Besuch vor fünfzehn
Jahren verlangte es ihn nach einer Villa auf den Westhügeln Alecias. Für ihn war die Stadt der eigentliche Mittelpunkt des acacischen Reiches, das schlagende Herz, von dem alles, was von Bedeutung war, ausstrahlte. Er liebte schon den Grundgedanken dieses Ortes, den Reichtum, der hier verwaltet wurde, die Annehmlichkeiten, die sich boten,
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