Acht Tage im August
ersten Anschein nach war Ihre Tochter allein oben im Turm und ist hinuntergesprungen.«
Er zögerte kurz, fuhr aber dann fort: »Ich habe es gestern gegenüber Ihrem Mann nicht erwähnt, aber ich muss es Ihnen jetzt sagen: Anna hat, bevor sie gesprungen ist, all ihre Kleidung ausgezogen, sie sorgfältig gefaltet, auf einem Balken abgelegt und ihre Schuhe daruntergestellt.«
Claudia Frieses Hände begannen zu zitterten bei diesen Worten. Ihr Mann beugte sich zu ihr, nahm ihre Hände in seine Riesenpratzen und drückte sie sanft.
»Ich verstehe nicht, was, um Himmels willen, kann das bedeuten?«, fragte er.
»Wir haben gehofft, Sie wüssten vielleicht eine Antwort oder könnten uns helfen, eine zu finden«, entgegnete Hammer. »Wir wissen ja nichts von Anna, wir haben sie nicht gekannt. Hat sie die Kleider vielleicht aus einer Art Routine heraus so zusammengelegt, weil sie so zur Ordnung erzogen war?«
Claudia Friese schüttelte den Kopf. »Sie sollten mal ihr Zimmer sehen! ›Ein kleiner Geist braucht Ordnung, ein Genie regiert das Chaos‹ war ihre Standardantwort, wann immer ich ihr gesagt habe, sie solle endlich mal aufräumen.«
Sie zog die Hände aus dem Griff ihres Mannes, schlug sie vors Gesicht und wandte sich ab, Schluchzen schüttelte sie.
»Ich versteh’ das auch nicht, da kann ich mir keinen Reim drauf machen«, bekräftigte Walter Friese. »Und ich kann mir auch keinen Grund dafür vorstellen, aus dem Anna sich hätte umbringen wollen. Ich denke seit gestern über nichts anderes nach.« Die letzten Worte kamen kaum hörbar.
Hammer blickte fragend zu Claudia. Statt einer Antwort erhielt er bloß ein hilfloses Achselzucken. Er spürte, das Gespräch fortzuführen, würde nichts bringen. Der Schock für Annas Eltern war noch zu frisch. Er würde in den nächsten Tagen noch einmal mit ihnen sprechen. Mit einer Kopfbewegung bedeutete er Assauer, dass es Zeit war zu gehen.
Sie standen auf.
»Wir sprechen heute noch mit der Gerichtsmedizinerin und der Spurensicherung. Falls sich etwas ergibt, lassen wir es Sie sofort wissen«, versprach Hammer und reichte Claudia Friese die Hand. Sie hielt sie fest, länger als für eine Verabschiedung nötig, wie Assauer registrierte.
»Ich will wissen, warum mein Kind gestorben ist«, sagte sie, dann ließ sie los.
Hammer nickte.
Walter Friese ging mit Hammer und Assauer zum Wagen, verabschiedete sie schweigend, nur mit einem Händedruck, und schlurfte, als sie abfuhren, zurück in die Scheune.
»Mich hat’s bald umgehauen«, meinte Assauer, kaum dass sie mit dem Auto aus dem Hof waren.
»Mich auch, die schaut ihrer Tochter ja zum Verwechseln ähnlich«, bestätigte Hammer.
»Ich glaub’«, fügte er hinzu, »es gibt nix Schlimmeres, als wenn Eltern ihr Kind begraben müssen.«
»Ja, und sich ständig fragen, warum.«
Als sie aus Rasting raus waren, sagte Assauer: »Was ander’s, Max, hast du schon gefrühstückt?«
»Nix Gescheites.«
»Dann wird’s Zeit, fahr ’n wir in’s Kowalski. Mein Magen läuft schon auf Reserve.«
»Und wenn du in meinen reinrufst , gibt’s ein Echo!«
»Dann sind wir uns ja einig.«
»Und später fahren wir in die Pathologie, zur Erdmann.«
***
Die Erdmann empfing Hammer und Assauer gegen drei Uhr mit zwei dampfenden Kaffeehaferln, was bei ihr mit der Überreichung zweier olympischer Goldmedaillen gleichzusetzen war.
»Wie geht’s ihm?«, wollte sie wissen.
»Beschissen«, antworteten Hammer und Assauer synchron.
»Aber es geht aufwärts«, ergänzte Hammer.
Sie hatten nach ihrem späten Frühstück telefoniert und sich im Krankenhaus nach dem Zustand Waldhausers, ihres Chefs, erkundigt, den vor Tagen ein hinterfotziger 1 Herzinfarkt von den Beinen geholt hatte. Es stand lange Spitz auf Knopf. Jetzt endlich war er zwar über’m Berg, aber laut Auskunft seines Arztes so hautig 2 beieinander, als seien all seine Akkus tiefentladen. Das Wiederaufladen würde dauern. Was nicht allzu schlimm war, denn sie kamen durchaus eine Weile ohne ihn zurecht, auch wenn dem ›Münchner Triumvirat‹, wie man sie drei in Kollegenkreisen nannte, weil sie einst im Dreierpack, von der Landeshauptstadt kommend, in Passau aufgeschlagen waren, gegenwärtig der Kopf fehlte.
Schlimm war vielmehr, dass man höheren Ortes glaubte, ein Chef müsse nun mal sein, und ihnen eine Stellvertreterin aufs Auge gedrückt hatte. Und was für eine! Nichte des Innenministers und begierig, ihre Karriereleiter weit weg in der Provinz anzulegen, wo
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