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Ich schau dir zu: Roman (German Edition)

Ich schau dir zu: Roman (German Edition)

Titel: Ich schau dir zu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paule Angélique
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    H arry fasst mich schon lange nicht mehr an. Ich bin zwanzig Jahre jünger als er. Seit fünfzehn Jahren leben wir zusammen. Mein Mann versteht, dass ich weiterhin Bedürfnisse habe. Er will nicht hinters Licht geführt werden: heimliche Treffen, Lügen – das würde er nicht akzeptieren. Er selbst wählt meine Liebhaber aus. Anhand von Fotos und Profilen kontaktiert er sie übers Internet. Er stellt genaue Fragen: Vorspiel, Technik, Ausdauer, eventuell Spielzeug; akzeptiert er Präservative oder nicht, gefällt ihm Schambehaarung oder nicht. Die Kontaktpartner glauben, sie hätten es mit einer Frau unter dem Pseudonym Ysé zu tun. Im Gegenzug schickt er ihnen Pics, die er nackt oder in verheißungsvollen Posen von mir aufgenommen hat. Diese Fotositzungen sind unsere einzige Intimität. Er befiehlt, ich gehorche. In solchen Momenten wünsche ich mir nach wie vor, er würde mit mir schlafen. Doch das kommt nie vor. Ich glaube, es gefällt ihm, dass ich frustriert bin. Ich weiß, dass sein Glied noch immer reagiert, aber nicht mehr für mich. Ich hatte Gelegenheit, dies unter sehr speziellen Umständen festzustellen – denen er ein Ende gesetzt hat.
    Zwischen den Spielen der Kinder und denen der Erwachsenen lag wenig Zeit. Jedoch ausreichend viel, damit es einem Mann gelang, aus mir ein Geschöpf der Lust zu machen, das er nach Belieben manipulieren kann. Mein Vater war Diplomat, meine Mutter Diplomatengattin, und so hat die Familie ständig ihre Koffer gepackt und wieder ausgepackt. Madras, Rom, Singapur, Boston.
    Wir waren überall und nirgends daheim. Schulen wurden wieder verlassen, sobald man sich eingewöhnt hatte. Die Freunde blieben zurück, die Kinderfrauen, denen man versprach, immer zu schreiben. Die Verstecke im Garten, die man mit großer Mühe eingerichtet und bald darauf verlassen hatte. Französisch zu Hause, Englisch bei Empfängen, die Sprache der anderen, die Fremdsprache, während der seltenen Momente in Freiheit schnell auf der Straße gelernt und genauso schnell wieder verlernt. Später dann die Jugendlieben, auch die Jungen waren Kinder hoher Beamter, die meisten waren erschreckend langweilig und fügsam. Meine Eltern konnten es nicht glauben, als ich erklärte, ich wolle nicht auf die Universität gehen, sondern mein eigenes Leben leben. Ich war neunzehn, sie konnten es mir nicht verbieten, konnten mir lediglich den Unterhalt verweigern. Während ich Arbeit suchte, zog ich nach Paris zu einer Cousine, die älter war als ich und genauso in Ungnade gefallen war. Ich hatte Glück: Claude Sasky, ein international bekannter Künstler, stellte mich als Sekretärin ein. Den Job bekam ich dank meiner Fremdsprachenkenntnisse. Auch meine Vertrautheit mit der guten Gesellschaft spielte dabei eine Rolle. Wir verstanden uns auf Anhieb. Ich war künstlerisch alles andere als ungeschickt, und mein gesunder Menschenverstand überzeugte ihn: Ich wurde seine Assistentin. Bei ihm lernte ich viel. Er riet mir, bei einer seiner Freundinnen Workshops zu belegen. Ich bereue es nicht, seinem Rat gefolgt zu sein. Bei einer Ausstellung in Basel war ich mit der Koordination des Katalogs betraut.
    In einem Café in der Rue Guynemer beim Jardin du Luxembourg.
    Sie sagen:
    »Harry Blin. Ich bin ein bisschen spät dran. Entschuldigen Sie.«
    Sie setzen sich mir gegenüber. Bestellen einen Kaffee. Aus einem Umschlag ziehen Sie einen dicken Stapel Unterlagen. Ohne uns gegenseitig richtig anzusehen, erwähnen wir die Person, die uns miteinander in Verbindung gebracht hat. Dennoch kennen wir nun ein Gesicht, eine Miene, die Art und Weise, die Hände zu bewegen. Wir entdecken unsere Stimmen, die wir am Telefon gehört haben. Vielleicht stellen wir Vermutungen über unser jeweiliges Alter an. Sie zeigen mir ein Layout. Bilder und Texte. Deshalb sind wir hier. Ich trage ein ärmelloses rotes Kleid. Auf das dunkle Rot fließt mein Haar als dunkler glänzender Bach. Ich habe Farbe bekommen an einem Vorfrühlingsnachmittag, den ich neulich an einem Strand in der Normandie verbracht habe. Sie tragen einen schwarzen Anzug. Der offene Kragen des weißen Hemds entblößt den Ansatz Ihrer Brusthaare. Ich höre Sie sprechen. Als Sie mir Fragen stellen, zwinge ich Sie mit meinen kurzen Antworten, weiterzufragen. Im Moment beobachte ich Sie wirklich. Es ist heiß. Unter meinen Achseln bilden sich feuchte Ränder. Ich achte darauf, dass Sie nichts bemerken. Ich rieche meinen eigenen Geruch ohne jedes Parfüm. Sicherlich würde er

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