Seele zum Anbeißen: Roman (German Edition)
1. Kapitel
»Ich streike!«
»Psst«, mache ich und deute auf einen hellblauen Koffer beachtlicher Größe. »Der muss auch mit.«
Rudolf zieht eine Grimasse und seinen Allwettertrenchcoat zurecht. Der grundsolide beigefarbene Mantel steht in krassem Gegensatz zu seinen wilden lockigen Haaren, in die ich mich damals sofort verliebt habe. »Verraten Sie mir, bei welchem Friseur Sie sind?«, hatte ich den gutaussehenden Mann vor mir am Taxistand gefragt. »Ich bin nämlich noch auf der Suche …« Es war natürlich nicht sein Haarschnitt allein, den ich interessant fand, sondern die Tatsache, dass ich genau diesen Traummann am Tag zuvor in der Zeitung gesehen hatte, unter der Rubrik
Berliner Promis ganz privat
. Und was am meisten für ihn sprach, er ähnelte gewaltig George Clooney.
Jetzt, ein paar Monate später, sind meine Haare zwar immer noch dieselbe Katastrophe – sehr fein, sehr überschaubar und auch ein wenig schnittlauchartig –, aber ich habe den tollsten Mann an meiner Seite, den man sich vorstellen kann. Na ja, meistens wenigstens. In seiner Galerie am Ku’damm macht Rudolf bella figura, auch im
Borchardts
und im
Einstein
, im Theater, in der Oper – nur leider weniger auf dem zugigen Ulmer Hauptbahnhof.
»Der Interregio-Express nach Aulendorf, Abfahrt um zwölf Uhr zwölf auf Gleis drei Süd, fährt heute ausnahmsweise von Gleis sieben. Ich wiederhole …«
Während der Lautsprecher weiterplärrt, murmelt Rudolf schon wieder was von »Ich streike jetzt wirklich«, aber er greift dann doch nach meinem Gepäck.
Wenn ich geahnt hätte, dass die Rollen an diesem phänomenalen Sonderangebot gleich bei der ersten Belastungsprobe den Geist aufgeben, hätte ich den Koffer natürlich niemals bis zum Anschlag vollgestopft. Tut mir ehrlich leid, dass Rudolf jetzt hinter mir die Treppe hochächzen muss. Wie üblich funktioniert das Gepäckband nicht, aber das liegt wirklich nicht an der »schwäbischen Provinz«, wie mein Herzallerliebster leise fluchend schimpft. Nein, genau dasselbe hatten wir heute Morgen um vier am Berliner Hauptbahnhof, um sechs Uhr achtzehn in Hannover und gegen elf Uhr in Augsburg. Lediglich in Wolfsburg – aus welchen Gründen auch immer – funktionierte die Technik hervorragend, und der Zug war sogar überpünktlich. Ein Hurra auf Wolfsburg!
»Hast … du … was … gesagt?« Schwer atmend stößt Rudolf die Worte aus, als wir endlich Gleis sieben erreicht haben, und ich mache mir ernsthaft Sorgen um ihn. Sein Gesicht ist gerötet, die dunklen Locken sind schweißverklebt, als er Koffer, Notebook sowie meinen Wanderrucksack abstellt, die zwei Reisetaschen auf der nächstbesten Bank platziert und sich mit einem Geräusch, als würde aus einem Schlauchboot die Luft herausgelassen werden, auf ebendiese sinken lässt.
Aus meiner Zeit mit Pepita, einer sehr undefinierbaren Mischlingshündin, weiß ich, jetzt muss das Leckerli zum Einsatz kommen, und ich rufe begeistert: »Wahnsinn, Rudolf! Wie du das wieder gemacht hast! Das ganze Gepäck …«
Er nickt ergriffen. Anscheinend wird ihm jetzt erst bewusst, welche Heldentat er soeben vollbracht hat.
»Wahnsinn!«, füge ich nochmals hinzu, und das ist auch berechtigt. Ich halte es nämlich für totalen Wahnsinn, meinen halben Hausrat Treppe hoch, Treppe runter durch Deutschlands Bahnhöfe zu schleppen und deshalb fast die Anschlusszüge zu verpassen. Und das alles bloß, weil mein allerliebster Rudolf (der Star unter den Berliner Galeristen, belesen, humorvoll, manchmal sogar witzig) panische Angst hat, mit einem von diesen netten, absolut vertrauenerweckenden Fahrstühlen zu fahren, die bestimmt tausend Mal im Jahr vom TÜV kontrolliert werden. Und meines Wissens in Deutschland noch nie zu tödlichen Unfällen geführt haben, im Gegensatz zu Rudolfs sonstigen Hobbys wie prinzipiell viel zu schnelles Fahren auf überfüllten Autobahnen.
So langsam scheint sich herumgesprochen zu haben, dass auf diesem Bahnsteig demnächst ein Zug einfahren könnte, denn um uns herum füllt es sich. Rudolf verteidigt mannhaft unsere Bank, stellt dann aber immerhin die beiden Taschen auf den Boden, als sich eine ältere Frau mit Rollwägelchen nähert.
»Kevin, komm, da kaasch de nasetza!«, kommandiert sie, und der Rotzlöffel in ihrem Schlepptau (mit Baseballkappe, Hose auf halb acht und Ohrhörern, aus denen nervenzerfetzende Geräusche klingen) lässt sich mit unbewegter Miene neben uns nieder, während Oma aus dem Rollwägelchenkorb eine
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