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Adieu, Sir Merivel

Adieu, Sir Merivel

Titel: Adieu, Sir Merivel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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    Wir hatten kein Geld für ein wollenes Leichentuch, aberMr. Cattlebury sagte, das sei nicht wichtig. Er ordnete an, dass Mr. Gates in mehrere Dachshäute eingenäht würde, wie wir sie im letzten Winter getragen haben, und es sollten so viele sein, dass er ganz eingehüllt wäre, und dann schickten wir nach dem Leichenbestatter, und der holte ihn ab.«
    Schweigen senkte sich über den Raum. Ich blickte zum leeren Kamin, und mehr als alles in der Welt wünschte ich mir, Will würde davor knien und Kleinholz für ein herrliches Feuer zu einem ordentlichen Häufchen schichten.
    Endlich fragte ich: »Wo liegt er begraben, damit ich hingehen und ihn besuchen kann?«
    Als Tabitha nicht antwortete, wiederholte ich die Frage. Wieder zupfte sie an ihrem Haar herum, versuchte, es sich aus den Augen zu streichen. Dann sagte sie: »Wir hatten kein Geld, Sir Robert, und es kam kein Freund und kein Verwandter, um seinen Leichnam zu fordern. Wir hatten keine Wahl. Er liegt im Armengrab hinter dem Kirchhof von Bidnold.«
    Ich blieb reglos in der Bibliothek sitzen, bis die Abenddämmerung hereinbrach. Und im Zwielicht sah ich betrunkene Gestalten die Auffahrt hinunterschwanken und hörte erneut das schrille Lachen des Jungen. Also erhob ich mich, ging hinunter zur Haustür und sah meine einstigen Dienstboten gemeinsam mit anderen mir nicht bekannten Menschen, die sie zu ihrem ausschweifenden Vergnügen eingeladen hatten, sich torkelnd von Bidnold entfernen, und mitgenommen hatten sie alles, was sie tragen konnten von meinen übrig gebliebenen Besitztümern.
    Ich versuchte nicht, sie aufzuhalten. Dass ich um so Vieles gebracht wurde, was mir gehört hatte, bekümmerte mich nur wenig. Ich hatte einst in Norwich gesehen, wie ein Mann gehenkt wurde, nur weil er einen einzigen Ballen Stoff gestohlen hatte, und diese Leute hier machten sich, vor meinen Augen, mit einem großen Schatz an Porzellan und Silberwaren davon und verschwanden damit irgendwo in der weiten Welt, wo ich sie nie wiederfinden würde.
    Unter den gestohlenen Gütern waren sehr viele Uhren, und dieses Stehlen von Zeit weckte in mir die wehmütige Erinnerung an Hollers und seine Uhr, welche er Madame de Maintenon hatte schenken wollen; doch sie war von ihr abgelehnt worden, weil sie »Gott die Zeit stahl«. Und dann dachte ich, dass das Leben der größte Diebstahl von Zeit war und dass uns nichts anderes übrig blieb als zuzuschauen, wie die Tage und die Monate und die Jahre davonschlüpften und in der Dunkelheit verschwanden.
    Das war eine melancholische Beobachtung, aber was mich noch mehr betrübte und mir das Herz so schwer machte, dass ich kaum atmen konnte, war meine Vorstellung von Wills totem Körper: Wie er, fest eingewickelt in die Dachsfelle, achtlos in die Gemeindegrube geworfen und dann mit Ätzkalk zugeschüttet worden war.
    »Das darf nicht sein, Will!«, erklärte ich der hereinfallenden Nacht. »So darf es nicht enden.«
    Ich wusste nicht mehr, was ich tun und wohin ich mich begeben sollte in dem großen Haus, das in all der Zeit, die ich es kannte, nie derart menschenleer gewesen war.
    Ich kehrte in die Bibliothek zurück, zündete eine einzelne Kerze an und setzte mich zu der Geisterschar von Fußschemeln und Kartentischen und dem sehr schönen Globus – Dingen, an die ich mich gerade noch erinnern konnte und die ich alle nie wiedersehen würde.
    »Deine Welt, Merivel«, sprach plötzlich Pearce’ Stimme aus dem Schatten, »ist grausam geschrumpft .«
    Darüber musste ich lächeln. »Du hast Recht, mein Freund«, sagte ich. »Das ist sie wahrhaftig.«
    »Und was wirst du nun tun?«, fragte Pearce.
    »Ich weiß es nicht«, erwiderte ich. »Ich weiß es nicht.«
    Ich dachte an mein Werk, meine Betrachtungen über die Tierseele , die ich mit solch rührendem Optimismus begonnen hatte, und fragte mich, ob ich mich wohl wieder daransetzen würde. Oder war ich vielleicht doch, nachdem ich eine Behauptung aufgestellt hatte, die sich wahrscheinlich nie endgültig erforschen und beweisen ließe, nur wieder zu einer meiner sinnlosen Reisen aufgebrochen? So wie damals nach Versailles – ebenso wenig, wie man dort meine angebotenen Dienste in Anspruch genommen hatte, würde ich die Beweise, die ich suchte, finden.
    »Was meinst du, Pearce?«, fragte ich. »Soll ich weiter die Idee dieser Arbeit verfolgen?«
    Doch es kam keine Antwort. Pearce war gegangen.
    Ich schlief ein wenig und wachte mit quälendem Hunger wieder auf. Der Kaninchenbraten fiel mir

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