Adressat unbekannt
Martin, geht mit seiner Frau und den Kindern nach Deutschland zurück. Der andere, Max, bleibt in Amerika und leitet die gemeinsame Kunstgalerie weiter. Der Abschied fällt beiden schwer, zumal der Jude Max seufzt: »Mir geht dein Geschick im Umgang mit den alten jüdischen Matronen ab«, die doch die besten Kundinnen sind! Aber Max versteht die Rückkehr des Freundes: »Du findest ein demokratisches Deutschland vor«, schreibt er am 12. November 1932, »ein Land mit einer tief verwurzelten Kultur, in dem der Geist einer wunderbaren politischen Freiheit aufzublühen beginnt.«
Es schaudert uns, solche Sätze zu lesen. Hat man das wirklich geglaubt damals? Martin antwortet, erzählt von Hindenburg, den er für einen feinsinnigen Liberalen hält. Schon im nächsten Brief vom Januar 1933 fragt Max: »Wer ist dieser Adolf Hitler, der in Deutschland augenscheinlich an die Macht strebt? Was ich über ihn lese, mag ich gar nicht.« Martin berichtet, daß Hitler eine Art »elektrischer Schock« und »gut für Deutschland« sei. Er schreibt auch von der SA, die bereits Gesichter blutig schlägt und böse antijüdische Hetze treibt, »aber diese Dinge gehen vorüber«, und öffentlich äußern mag sich Martin dazu nicht, denn er hat schon einen Posten in der neuen Regierung, führt ein offenes Haus, macht Karriere. Sein neugeborenes Kind wird Adolf heißen.
Wir haben erst rund zwanzig Seiten gelesen, wir sind erst beim vierten Brief, und uns stockt schon der Atem. Was entwickelt sich da? So also war das damals – so schnell ging das mit der Anpassung? So fest schloß man die Augen vor den beginnenden Verbrechen und sagte: »Diese Dinge gehen vorüber«? Wir beginnen millionenfach angepaßtes Mitläufertum zu ahnen und fürchten zurecht um die Freundschaft zwischen Max und Martin.
Sie zerbricht in rasender Geschwindigkeit, von Brief zu Brief. In den USA der eine, der verzwei- felt fragt, bittet, mahnt, in Deutschland der andere, der kühl zurückweist, schließlich feststellt, daß es ihm unmöglich sei, noch länger mit einem Juden zu korrespondieren. Das ist im Juli 1933. Und er spricht bereits nach, was er täglich liest und hört: »Die jüdische Rasse ist ein Schandfleck für jede Nation.« Er versteigt sich zu Sätzen wie »Vierzehn Jahre lang haben wir unseren Kopf unter der Schmach der Niederlage gebeugt. Wir haben das bittere Brot der Scham und die dünne Suppe der Armut gegessen.«
Wir? Martin hatte in den USA gelebt, mit dem Freund eine gutgehende Galerie geführt und an das Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg wohl kaum gedacht. Aber jetzt heißt es allerorten WIR: »Wir reinigen unseren Blutstrom von minderwertigen Elementen.« Und dem jüdischen Freund schreibt er den ungeheuerlichen Satz: »Ihr lamentiert immer, aber ihr seid niemals tapfer genug, zurückzuschlagen. Deshalb gibt es Pogrome.«
Dreißig Seiten haben wir jetzt ungefähr gelesen. Nie war ein dramatischer Höhepunkt in einer Geschichte derart schnell erreicht, der Schock ist groß, wie soll das noch gut ausgehen?
Es geht nicht gut aus. Der Jude Max schlägt zurück, etwas, was man nicht erwartet hätte. Einmal bittet er noch um Hilfe für seine Schwester Griselle, die der »Freund« doch schließlich einst geliebt hat. Nicht nur wird die Hilfe verwehrt, die Schwester stirbt Ende 1933 durch Mitschuld Martins. Briefe an sie erhält Max mit dem Vermerk »Adressat unbekannt « zurück – hier klingt das Motiv schon einmal an. Drei Monate später kommt der letzte Brief von Max an Martin ebenfalls zurück mit dem Vermerk »Adressat unbekannt«. Wie Max das schafft, werden Sie selbst lesen. Und Sie werden sich vor Ekel schütteln, als Martin nun, da es ihm an den Kragen geht, noch einmal die alte Freundschaft beschwört, die er doch zuvor so energisch aufgekündigt hatte.
Ich habe nie auf weniger Seiten ein größeres Drama gelesen. Diese Geschichte ist meisterhaft, sie ist mit unübertrefflicher Spannung gebaut, in irritierender Kürze, kein Wort zuviel, keines fehlt. Ohne Umschweife werden exemplarische Lebensgeschichten erzählt, wird Zeitgeschichte dokumentiert. Der Jude ist kein Gutmensch, der sich alles bieten läßt, sondern liefert die Mörder selbst ans Messer, und: Der Deutsche ist kein sadistischer Unhold, sondern ein angepaßter, karrierebesessener Mitläufer, ein opportunes Würstchen. Wenn es auf Leben und Tod geht, das zeigt die Autorin, dann geht es nur noch ums Überleben. Dann spielt Menschlichkeit keine Rolle mehr, auf beiden
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