1296 - Wenn der Albtraum kommt
Melvin Harris hatte seinen Wagen im Schutz der Böschung abgestellt und war die Schräge hochgeklettert bis hin zu dem winterlichen Gestrüpp, das aussah wie die rauen Borsten eines Besens. Der Platz war für die Bequemlichkeit nicht ideal, aber es war für ihn der ideale Beobachtungsort, an dem er erstens sein Ziel sah und zweitens das Zielobjekt genau im Auge behielt. Um es deutlicher sehen zu können, hatte er das Fernglas eingesteckt, dessen Optik das Haus zum Greifen nahe heranholte.
Nur darum ging es ihm. Darum ging es ihm schon seit Jahren. Schon vor seiner Entlassung in den Ruhestand hatte er sich immer darum gekümmert. Damals noch in seiner Position als Polizist, aber die Zeiten waren vorbei. Er hatte seinen Dienst hinter sich, aber er fühlte sich noch nicht als alter Mann. Vor allen Dingen war er sauer darüber, dass es ihm nicht gelungen war, einen bestimmten Mann zu stellen, den er in einem schrecklichen Verdacht hatte.
Für ihn war Theo Gain ein mehrfacher Mörder. Ein Massenmörder. Ein perverses Schwein. Der Killer mit dem Engelsgesicht, der sich so nett und harmlos gab und von den Menschen akzeptiert wurde.
Der allein lebte, der im Chor mitsang und seiner künstlerischen Arbeit nachging. Er malte und modellierte, er war fleißig, fiel nicht auf und verkaufte seine Produkte auf den Märkten in der Umgebung.
Das war die eine Seite.
Es gab eine andere. Und das war die brutale. Der eiskalte Killer, der schon zahlreiche Menschen auf dem Gewissen hatte und dem niemand etwas beweisen konnte. Der krank im Kopf war. Für Melvin Harris war Theo Gain nichts anderes als eine Ausgeburt der Hölle. Ein Albtraum auf zwei Beinen, einfach furchtbar und nicht zu beschreiben.
Beweise waren es, die fehlten. Und genau die wollte Harris beschaffen, obwohl er seinen Job bei der Polizei nicht mehr ausübte und nun von der Rente lebte.
Das alte Jagdfieber hatte ihn nicht verlassen, ebenso wenig wie der Instinkt, und der sagte ihm, dass er an diesem Tag Glück haben würde. Noch war das Licht gut. Er würde Theo sehen können, wenn er das Haus verließ, und er war davon überzeugt, dass der Mann sich wieder ein Opfer holen würde.
Es wurde Zeit!
Harris kannte den Mordrhythmus. Er hatte ihn nach langem Tüfteln herausgefunden, doch da war es für ihn bereits zu spät gewesen. Da hatte man ihn in den Ruhestand geschickt, und die jüngeren Kollegen wollten von seiner Meinung nichts mehr wissen. Zwar hatten sie den Fall nicht zu den Akten gelegt, doch die Sonderkommission war längst aufgelöst worden, und man wandte sich anderen Fällen zu.
Fünf Tote gab es offiziell!
Das heißt, man hatte die Leichen nicht gefunden. Die Menschen waren einfach nur verschwunden, als hätten sie sich in Luft aufgelöst. Es gab Killer, die nur Frauen oder nur Männer umbrachten. Es gab auch welche, die sich Kinder holten, aber dieser hier passte nicht in ein Raster. Er hatte sich alle geholt. Da waren Männer und Frauen verschwunden, zum Glück keine Kinder, aber Melvin Harris glaubte nicht daran, dass es nur fünf verschwundene Menschen waren. Es gab sicherlich noch mehr, deren Verschwinden man nicht bemerkt hatte.
Natürlich hatte er den Kollegen damals von seinem Verdacht berichtet und nur ein Schulterzucken erlebt. Niemand wollte darauf eingehen, weil Beweise fehlten. Es gab keinen Grund, Gains Haus zu durchsuchen, da er sich nichts hatte zu Schulden kommen lassen. Er lebte völlig harmlos in den Tag hinein.
Und doch war er der Killer! Er war der Mann, der die Menschen geholt und umgebracht hatte, und das wollte Melvin Harris beweisen, bevor er sich endgültig zur Ruhe setzte.
Als Pensionär hatte er Zeit genug. Beobachten, daraus die Schlüsse ziehen, das war es, was ihn weiterbrachte. Theo Gain würde ihm nicht mehr entkommen. Er wusste nicht, dass er beobachtet wurde, denn Harris hatte sich nie nahe an ihn herangetraut. Er hatte ihn aus der Ferne beobachtet. Manchmal hatte er auch in sein Engelsgesicht schauen können. Für ihn verbarg sich dahinter die Fratze des Teufels oder eines Sadisten.
Der Platz, den er sich ausgesucht hatte, war gut. Er brauchte auch nicht zu stehen. Im Gestrüpp stand der Stuhl, den er hier abgestellt hatte, und kein Autofahrer, der die Stelle passierte, hatte einen Grund, gerade an dieser Stelle anzuhalten und die Böschung hochzugehen.
So blieb alles im grünen Bereich für ihn.
Es hätte nur wärmer sein können. So aber musste er sich mit der nasskalten Kälte abfinden, die seinen Knochen
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