Afterdark
sosehr sie sich auch nach Lage und Fähigkeiten unterscheiden, verhalten sich still. Sogar ein junges Paar, das eng umschlungen vor einem Getränkeautomaten steht, hat sich nichts mehr zu erzählen. Sie teilen nur noch wortlos die schwache Restwärme in ihren Körpern.
Der neue Tag ist nun ganz nah, aber der alte schleift seinen schweren Saum noch hinter sich her. Die neue und die alte Zeit fließen ineinander und vermengen sich, so wie die Wasser des Meeres und eines Flusses an der Mündung lebhaft miteinander ringen. Auch Takahashi kann noch nicht herausfinden, auf welcher Seite der Welt nun sein Schwerpunkt liegt.
17
05:38 Uhr
Mari und Takahashi gehen nebeneinander. Mari hat ihre Schultertasche umgehängt und ihre Red-Socks-Kappe tief ins Gesicht gezogen. Ihre Brille trägt sie nicht.
»Und? Bist du nicht müde?«, fragt Takahashi.
Mari schüttelt den Kopf. »Ich hab ja vorhin ein bisschen geschlafen.«
»Einmal bin ich auf dem Heimweg von einer Nachtprobe in Shinjuku in die Chuo-Linie gestiegen und in der Präfektur Yamanashi aufgewacht, mitten im Gebirge. Ich falle überall sofort in Tiefschlaf.«
Mari schweigt. Sie denkt wohl an etwas anderes.
»... Ich würde gern noch etwas zu vorhin sagen. Wegen Eri«, wagt er sich vor. »Aber wenn du nicht willst, müssen wir auch nicht darüber sprechen. Ich hätte da nur noch eine Frage.«
»Hm?«
»Deine Schwester schläft die ganze Zeit. Sie will nicht aufwachen. Das hast du doch gesagt, oder?«
»Ja.«
»Ich kenne die Situation ja nicht, aber was du da beschrieben hast, ist doch eigentlich ein Koma, oder? Sie ist immerhin bewusstlos.«
»Nein, so ist es nicht. Im Augenblick geht es nicht um Leben oder Tod. Sie ... sie schläft einfach nur.« Mari stottert ein bisschen.
»Einfach nur?«, fragt Takahashi.
»Hm. Einfach so ... « Mari seufzt. »Tut mir leid, ich kann's nicht besser erklären.«
»Macht doch nichts. Wenn du es nicht kannst, lassen wir es eben.«
»Ich bin müde und kriege keine Ordnung in meinen Kopf. Außerdem klingt meine Stimme nicht wie meine Stimme.«
»Irgendwann reicht's ja auch mal. Dann lassen wir dieses Thema jetzt.«
»Ja«, sagt Mari erleichtert.
Während sie weiter in Richtung Station gehen, reden sie eine Weile nichts. Takahashi pfeift leise vor sich hin.
»Um wie viel Uhr wird es eigentlich hell?«, fragt Mari.
Takahashi schaut auf die Uhr. »Um diese Jahreszeit wohl so gegen sechs Uhr vierzig. Wir haben jetzt die längsten Nächte, und es bleibt wohl noch ein Weilchen dunkel.«
»Die Dunkelheit macht doch müde.«
»Weil das ursprünglich die Zeit war, in der alle schlafen mussten«, sagt Takahashi. »Historisch gesehen, können sich die Menschen erst seit kurzem nach Einbruch der Dunkelheit ungehindert im Freien bewegen. Früher musste man sich nach Sonnenuntergang in seine Höhle zurückziehen und sich schützen. Unsere innere Uhr ist noch darauf eingestellt, dass wir schlafen, wenn die Sonne untergegangen ist.«
»Mir kommt es so vor, als wäre sehr viel Zeit vergangen, seit gestern die Sonne untergegangen ist.«
»Vielleicht ist ja wirklich viel Zeit vergangen.«
Ein großer Lieferwagen hält vor einer Drogerie, und der Fahrer schleppt die Ware durch den halb geöffneten Rollladen in das Geschäft. Die beiden gehen vorbei.
»Können wir uns vielleicht in nächster Zeit mal treffen?«
»Warum?«
»Warum?«, fragt er zurück. »Weil ich dich gern wiedersehen und mit dir reden würde. Wenn möglich zu einer etwas normaleren Zeit.«
»Läuft das jetzt auf so was wie ein Date raus?«
»So könnte man es nennen.«
»Aber worüber willst du mit mir reden?«
Takahashi überlegt ein bisschen. »Was meinst du, welche gemeinsamen Themen wir hätten?«
»Abgesehen vom Thema Eri.«
»So auf die Schnelle fällt mir da auch nichts ein. Im Moment. Aber wenn wir so zusammen sind, habe ich das Gefühl, dass wir uns eine Menge zu erzählen haben.«
»Sich mit mir zu unterhalten ist bestimmt langweilig.«
»Hat das schon mal jemand zu dir gesagt? Dass es langweilig ist, mit dir zu reden?«
Mari schüttelt den Kopf. »Das gerade nicht.«
»Ich habe jedenfalls nicht das Gefühl.«
»Manchmal sagen die Leute, ich wäre ein bisschen zu ernst«, sagt Mari aufrichtig.
Takahashi wechselt seinen Posaunenkoffer von der rechten auf die linke Schulter. »Weißt du, man kann unser Leben doch nicht einfach in heiter oder ernst unterteilen. Dazwischen gibt es auch noch eine Zone mit wechselnden Schattierungen. Ein gesunder
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