Afterdark
Bett und schaut auf das Gesicht ihrer tief schlafenden Schwester hinunter. Sie streckt die Hand aus, berührt sacht Eris Stirn und ruft leise ihren Namen. Keine Reaktion. Wie immer. Mari zieht sich den Drehstuhl vom Schreibtisch neben das Bett und setzt sich. Konzentriert nach vorn gebeugt, betrachtet sie das Gesicht ihrer Schwester von nahem, als suche sie nach einem geheimen Code darin.
Etwa fünf Minuten vergehen. Mari steht auf, nimmt ihre Red-Socks-Kappe ab und, nachdem sie sich durch ihr wirres Haar gefahren ist, auch ihre Armbanduhr. Sie legt die Sachen auf den Schreibtisch ihrer Schwester. Sie zieht ihre Stadionjacke aus, dann den Parka mit der Kapuze und das kleinkarierte Flanellhemd, das sie darunter trägt. Sie hat jetzt nur noch ein weißes T-Shirt an. Nachdem sie sich noch der dicken Sportsocken und ihrer Blue Jeans entledigt hat, schlüpft sie zu ihrer Schwester unter die Decke und schlingt ihre schlanken Arme um sie. Sanft legt sie die Wange auf Eris Brust und bleibt ganz still so liegen. Sie lauscht auf Eris Herztöne. Dabei fallen ihr ganz allmählich die Augen zu, und unversehens quellen Tränen unter ihren geschlossenen Lidern hervor. Es sind sehr natürliche, große Tränen. Sie laufen ihr übers Gesicht und benetzen den Pyjama ihrer Schwester. Eine rollt auch auf Eris Wange.
Mari richtet sich im Bett auf und wischt sich mit den Fingern die Tränen ab. Über irgendetwas - was es konkret ist, weiß sie nicht - empfindet sie schreckliches Bedauern. Als hätte sie etwas nicht Wiedergutzumachendes angerichtet. Das Gefühl überkommt sie absolut, seine Ursache ist für sie nicht greifbar, und dennoch ist es ein bedrängendes Gefühl. Die Tränen fließen weiter. Mari fängt sie mit den Handflächen auf Die frischen Tränen sind warm wie Blut, die Wärme ihres Körpers ist noch in ihnen. Unvermittelt kommt ihr ein Gedanke: Ich könnte woanders sein, bin aber hier. Ebenso könnte auch Eri woanders sein und ist dennoch hier.
Sicherheitshalber sieht Mari sich noch einmal im Zimmer um, bevor sie sich wieder Eris schönem schlafendem Gesicht zuwendet. Sie ist so wunderschön, dass man sie in einem Glaskasten ausstellen möchte. Auf einmal ging ihr das Bewusstsein verloren, nun ist es irgendwo verborgen, hält sich versteckt. Dennoch fließt es gewiss als unterirdischer Strom an einem unsichtbaren Ort. Mari kann sein leises Rauschen hören. Sie spitzt die Ohren. Es klingt gar nicht so fern. Mari spürt, dass sich dieser Fluss irgendwo mit ihrem eigenen vermischt. Weil sie Schwestern sind.
Sie beugt sich vor und küsst Eri flüchtig auf die Lippen. Sie hebt den Kopf und sieht wieder auf das Gesicht ihrer Schwester hinab. In ihrem Herzen lässt sie Zeit verstreichen. Dann küsst sie Eri noch einmal, diesmal länger, weicher. Als würde ich mich selbst küssen, denkt Mari. Mari und Eri, zwei Namen, die sich nur in einem Schriftzeichen unterscheiden. Sie lächelt. Dann rollt sie sich erleichtert neben ihrer Schwester zusammen, schmiegt sich an sie und versucht, etwas von ihrer Körperwärme auf Eri zu übertragen. Lebenszeichen auszutauschen.
Eri, komm zurück, flüstert sie ihr ins Ohr. Bitte. Als Mari die Augen schließt und sich entspannt, rollt der Schlaf wie eine große Woge über sie hinweg und hüllt sie ein. Auch ihre Tränen versiegen.
Vor dem Fenster wird es rasch heller. Durch die Ritzen der Jalousien dringen frische Lichtstrahlen ins Zimmer. Die alte Zeit verliert ihre Macht und ist unwiederbringlich vorüber. Viele Menschen murmeln noch alte Worte, aber im neuen Sonnenlicht wechseln deren Nuancen rasch und erneuern sich. Auch wenn sich ein Großteil dieser neuen Nuancen kaum länger als bis zum Abend halten wird, leben wir weiter - trotz dieser Unsicherheit.
Einen Moment lang scheint der Fernsehapparat in der Zimmerecke aufzuflackern. Die Lichtquelle in der Bildröhre blitzt auf. Es rührt sich etwas. Ein instabiles Bild erscheint. Versucht die Leitung sich aufs Neue zu verbinden? Mit angehaltenem Atem beobachten wir diese Veränderungen. Doch im nächsten Augenblick ist der Bildschirm wieder erloschen. Dort herrscht nun nur noch Leere.
Was wir zu sehen glaubten, war vielleicht nichts weiter als eine optische Täuschung. Vielleicht hat die Glasscheibe einfach das Licht reflektiert, das durch das Fenster eindringt. Im Raum herrscht unverändert Stille, doch ihre Tiefe und Schwere haben deutlich nachgelassen. Vogelgezwitscher dringt ans Ohr. Hört man genau hin, kann man Fahrradgeräusche,
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