Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist (German Edition)
ihren Kindern aggressives Verhalten zu verbieten. Viele meinen, damit einen weiteren Krieg vermeiden zu können. Keine Nation hat es geschafft, in einer angemessenen Weise ihre Kriegsveteranen zu behandeln, was zu unendlich vielen weiteren Beispielen von Gewalt und Selbstzerstörung führt. Destruktive Energien werden von einer Generation auf die nächste übertragen. Es wundert mich nicht, dass diese Tatsache ebenfalls dazu beiträgt, die allgemeine anti-aggressive Haltung zu fördern, obwohl die Erklärung hier nicht anders ausfällt als bei den Jungen und Mädchen aus der Institution für sogenannte schwererziehbare Kinder, die ich eingangs erwähnt habe.
Ob man die wahren Wurzeln von Wut, Zorn, Gewalt und Hass nur erklären möchte oder ob man bemüht ist, Wege zu finden, um in Familien, Kindergärten und auf den Straßen unserer Städte mit starken Gefühlen umgehen zu lernen – das sind zwei Paar Schuhe. Vierzig Jahre klinischer und pädagogischer Praxis haben mich mit einigen praktischen Antworten ausgestattet, die ich im letzten Teil dieses Buches vorstellen werde.
Am Anfang meines eigenen Lernprozesses steht eine Sitzung mit einem elfjährigen amerikanischen Jungen, der notorisch gewalttätig und aggressiv war: Er verhielt sich stets daneben und war völlig unzugänglich. Unser Gespräch eröffnete er freundlich mit dem kategorischen Satz: »Ich werde nie mehr irgendeine Scheiße von irgendwem annehmen. Nie mehr! Ist das klar, Mister?«
Seine Botschaft war eindeutig. Was er mir zu verstehen geben wollte, war: »Wenn du willst, dass ich dich ernst nehme, dann zeichne dich dadurch aus, dass du mich wahrnimmst. Halt mir keine Vorträge über den, der ich bin oder vielmehr sein sollte! Ich habe mir das Recht herausgenommen, mich selbst zu bestimmen, versuch du es lieber nicht!«
In letzter Zeit wird nicht nur die Aggressivität einiger Kinder und Jugendlicher als »problematisch« gebrandmarkt. Vielmehr existiert die Tendenz, jede bedeutsame Emotion in unseren Familienhäusern und Tagesstätten unwillkommen zu heißen, ausgenommen das »Glücklichsein«. Der gleiche Gedanke, der dieser Tendenz zugrundeliegt, bewirkt zudem, dass Eltern sich von ihrem menschlichen Kern abkehren und zu Schauspielern werden. Dieser Gedanke verdankt sich keiner Weisheit aus der Gegenwart oder Vergangenheit, auch nicht irgendeiner brandaktuellen Erkenntnis über das, was menschlichen Wesen guttut. Trotzdem formt er unser Bild von dem, was eine »gute« und »erfolgreiche« Person sein sollte. Ich habe beschlossen, dieses Phänomen das »Botox-Syndrom der Seele« zu nennen, und hoffe, dass sich mir viele anschließen, um uns Menschen in Zukunft etwas Besseres zu bescheren.
Konstruktive Aggression ist wie Sexualität und Liebe: Alle drei machen Leben möglich, bereichern unsere Beziehungen, führen zu tieferen Einblicken und einer besseren Lebensqualität. Umarme in deinem Inneren diese drei Lebensaspekte, und du wirst in der Lage sein, jenen Kindern und jungen Menschen Raum zu gewähren, die auf deine empathische Führung hoffen und setzen.
I. Geistig gesund
Die Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO) definiert Gesundheit als einen »Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens« und nicht nur als »das Fehlen von Krankheit«. Es ist überflüssig zu erklären, warum körperlich und geistig gesund sein für jeden Einzelnen und die Gesellschaft so wichtig ist – ich werde mich also kurz fassen.
Das Fehlen von Gesundheit ist schmerzhaft. Es reduziert die Lebensqualität des Individuums, in der Folge auch die seines engsten Familienkreises. Der Gesundheitsgrad, welcher von einzelnen Menschen und der Gesellschaft erreicht wird, ist für die Ausgaben eines Staates entscheidend. Über das Verhältnis von Werten und der Funktionsweise von Gesellschaften einerseits sowie der individuellen und familiären Gesundheit andererseits kann viel diskutiert werden. Zweifelsohne steht jedoch fest, dass die Gesellschaft als Ganzes mehr Einfluss hat als jeder Einzelne von uns.
Wenn beispielsweise eine Kommune entscheidet, die Kosten für die Kindertagesstätten zu kürzen – mit der Konsequenz, dass 28 Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren sieben Stunden von einer einzigen Person betreut werden – ausgenommen vielleicht zwei Stunden um die Mittagszeit, wo sich zwei Erwachsene um die Kinder kümmern, da die Jüngsten zu Bett gebracht werden müssen –, so wirkt sich dieser Sachverhalt
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