Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist (German Edition)
und Frust »ausleben« würden.
Jedes vierte Kind wird demnach im Alter von drei bis sechs Jahren als »Problemkind« charakterisiert, und ich kann garantieren, dass nur eine sehr geringe Zahl dieser Kinder in ihren Familien Opfer von Verwahrlosung und Missbrauch waren. Das ist auf beruflicher wie nationaler Ebene ein Skandal für ein System, das sich als Vorbild für andere Länder dieser Welt versteht. – Eine scharfe Kritik, die jedoch berechtigt ist, muss ausgesprochen werden: Wir befinden uns auf einem sehr gefährlichen Pfad, das sollten wir uns vor Augen halten und konstruktive Wege finden, um mit dem Phänomen Aggression umzugehen, sonst schaden wir weiterhin viel zu vielen Menschen.
»Wir verstehen dich, wirklich! Aber bitte hör auf, so wütend zu sein!«
Diese Sätze waren und sind noch immer die Botschaft, die Pädagogen und Erzieher – sie sollten es besser wissen – Tausenden von missbrauchten und vernachlässigten Kindern und Jugendlichen vermitteln – im Namen von Therapie und Heilung. Das macht mich wütend! Und viele Eltern machen diesen Trend mit, obwohl ich mein Bestes tue, um ihre Perspektive zu verändern.
In den letzten fünfzehn Jahren ist die Tendenz, wütende und frustrierte Kinder in Kindertagesstätten und Schulen zu diskriminieren, stark gestiegen, und Aggression ist heute zum Tabu geworden. Ähnlich stand es vor nicht allzu langer Zeit um die menschliche Sexualität: Man begegnete ihr lediglich mit moralischen Urteilen; Professionalität oder eine humane Einstellung im Umgang mit ihr waren schier unmöglich. Das neue Tabu – das Aggressionstabu – könnte allerdings noch viel gefährlicher werden als das sexuelle Tabu, obwohl Letzteres sehr viel Schaden angerichtet hat, indem es Menschen die Erfahrung von Lust, Freude und Nähe vergällte. Das neue Tabu setzt die geistige Gesundheit von Kindern sowie ihr Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen aufs Spiel.
In der Vorbereitung auf dieses Buch haben wir nach möglichen wissenschaftlichen Gründen für die Tatsache gesucht, dass Institutionen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, nicht bereit sind, sich mit dem Thema Aggression in einer sinnvollen und konstruktiven Weise auseinanderzusetzen. Doch wir fanden keine. Wir stießen häufig auf sehr theoretische Abhandlungen mit konstruierten Fallbeispielen, die keinen Unterschied zwischen gewalttätigen Erwachsenen und aggressiven Kindern machen. Zudem legen sie keinen anderen als den moralischen Umgang mit dem Thema Aggression nahe. [2] Der englische Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald W. Winnicott [3] ist eine Ausnahme – vermutlich, weil er Kinder und ihre Entwicklung intensiv beobachtet hatte.
Woher kommt dieser Widerstand im Umgang mit Aggression, wenn er auf keine wissenschaftliche Theorie zurückzuführen ist? Mit vorliegendem Buch versuche ich, eine Antwort auf diese Frage zu geben. Zudem werde ich versuchen, eine klare Linie zwischen destruktiver und konstruktiver Aggression zu ziehen, da es zweifelsohne beide Arten gibt, Letztere aber niemandes Leben bereichert und in einer zivilisierten Gesellschaft keinen Gewinn darstellt. Wenn ein neun Jahre alter Schüler seinen Lehrer oder seine Eltern verbal oder sogar physisch angreift, dann liegt es auf der Hand, dass beide Seiten Hilfe brauchen. Dem Jungen muss geholfen werden, seine Frustration genau zu bestimmen und sie in einer weniger destruktiven Art (die immer auch selbstdestruktiv ist) auszudrücken. Und der Erwachsene braucht Hilfe, um seine persönlichen Grenzen zu definieren und sie mit persönlicher Autorität wie Selbstrespekt zu verteidigen.
Dies ist gerade der Schnittpunkt, an dem sich die Familientherapie, Systemtheorie und Neurobiologie begegnen: Aggression ist eine soziale Reaktion, die unserem Gehirn entspringt. Sie ist keineswegs genetisch bedingt. Die Fähigkeit, das aggressive Verhalten eines Individuums – egal welchen Alters – zu entschlüsseln, ist mit der Fähigkeit, hinter Moral und Selbstbewusstsein zu blicken, gleichzusetzen.
Meine tägliche Arbeit findet in ungefähr einem Dutzend verschiedener Länder statt, alle haben ihre eigene Kultur und Geschichte. Viele Menschen in diesen Ländern sind durch Kriegserfahrungen und kollektive Traumata (die nichts anderes sind als nachwirkende Folgen von Kriegen) belastet. Konsequenterweise haben Menschen mit unterschiedlicher nationaler Zugehörigkeit unterschiedliche Erklärungsmuster für ihre länderspezifische Tendenz, Aggression abzulehnen und
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