Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist (German Edition)
den enttäuschen muss, der meint, sein Kind müsse all das leisten, bevor es fünf Jahre alt ist. Das Kind braucht dafür eine ganze Kindheit, unter der Voraussetzung, es erhält liebevolle, empathische Feedbacks und ist von Eltern umgeben, die sich zumindest einigermaßen ihres persönlichen Werts und ihrer Grenzen bewusst sind.
Gibt es wirklich nur diesen einzigen Weg? – Nein, es gibt noch einen anderen. Wir können strenge moralische und/oder religiöse Regeln für Kinder aufstellen, die sogar körperliche Züchtigung vorsehen, und wir können mit sozialem Ausschluss drohen, um möglichst effektiv zu sein. Dies ist in kleinen, abgesonderten Gruppen noch immer möglich, doch immer seltener in der Welt, in der Kinder heute aufwachsen – in einer Welt mit globalen Perspektiven und global ausgerichteten Erkenntnissen, einer Welt, in der es den strengen moralischen Konsens der Gesellschaft nicht mehr gibt. Diesen, hier bloß gestreiften Weg schließe ich von meiner Betrachtung aus, denn er hat noch nie zu individuellem Wohlergehen und wertvollen persönlichen oder sozialen Beziehungen geführt.
Um ein gesundes Selbstwertgefühl zu entwickeln, muss ein Kind sich wertvoll für seine Eltern fühlen und folglich ihrer Zuneigung und Liebe »wert sein«. Ausgehend davon entwickelt sich das Selbstwertgefühl auf zwei Ebenen: einer quantitativen und einer qualitativen. Die quantitative Entwicklung vollzieht sich täglich im Minutentakt: Während sich das Kind selbst kennenlernt, sein Potential, seine Begrenzungen, Gedanken, Gefühle und Reaktionen entdeckt und erfasst. Diese Entwicklung bestimmt uns, solange wir leben, solange wir uns entfalten und verwandeln; das Maß an Selbsterkenntnis vergrößert sich immer mehr. Entscheidend bleibt, sich seines Selbst stets bewusst zu sein.
Die qualitative Ebene hängt fast gänzlich vom verbalen und nonverbalen Feedback ab, das Eltern, andere wichtige Erwachsene oder Geschwister (in dieser Reihenfolge) dem Kind zuteilwerden lassen.
Wenn ich eineinhalb Jahre alt bin und die Welt vergnügt kennenlerne, indem ich alles, was ich anfasse, in den Mund stecke, dann hängt mein Selbstwertgefühl vom Feedback meiner Eltern ab. Gelingt es ihnen, mich zu überzeugen, dass nicht jedes Ding in den Mund gehört, ohne meine Entdeckungslust zu verurteilen, dann wird es mir gutgehen. Wenn es allerdings dem Feedback meiner Eltern an empathischer Führung fehlt, werde ich mich schlecht fühlen, und es wird mir nicht gutgehen.
Wenn ich zweieinhalb Jahre alt bin und meine kleine Schwester so fest umarme, dass sie beinahe erstickt, und meine Eltern intervenieren, indem sie mir zeigen, wie ich meine Liebe etwas zärtlicher ausdrücken kann, wird es mir gutgehen. Sind sie aufgebracht, brüllen mich an und stoßen meine Arme weg, werde ich eine wichtige Erfahrung missen – die Erfahrung, wie ich einen anderen Menschen lieben kann, indem ich dessen persönliche Grenzen in angemessener Weise beachte, und es wird mir dabei nicht gutgehen.
Dafür gibt es zwei Gründe. Ein Grund ist von der Neurobiologie entdeckt worden und besagt, dass die kindliche Lernfähigkeit – ob es sich dabei um intellektuelle oder soziale Fähigkeiten handelt, ist egal – zurückgeht, wenn das Umfeld, in dem Kinder lernen, kritisch ist. So kommt es, dass kritische Eltern und Lehrer in einem Circulus vitiosus (Teufelskreis) landen, wo sie dauernd frustriert und wütend sind, da sie alles »zigmal« wiederholen müssen, und Kinder sich dabei immer schlecht, dumm und keines Respekts würdig empfinden. Der andere Grund ist die allgemein bekannte, emotionale Reaktion aller Kinder: Wenn meine Eltern nicht glücklich sind, muss etwas mit mir – mit dem, der ich bin – nicht in Ordnung sein.
Dieser Mechanismus ist in jedem Kind zu jeder Zeit aktiv. Deshalb hängt das Selbstwertgefühl eines Kindes und seine geistige wie soziale Gesundheit fast ausschließlich vom Feedback seiner Eltern ab. Das ist so – egal, in welchem emotionalen Zustand das Kind ist, ob es glücklich, enthusiastisch, spielerisch, traurig, unglücklich, leidend oder eben wütend und aggressiv ist.
Die Erwachsenen hingegen erinnern sich an ihre edlen Ziele und machen aus der Aggression ein soziales Tabu. Indem sie es ihrem Kind unmöglich machen, seine Selbsterkenntnis zu vertiefen und zu lernen, in einer immer reiferen, sozial akzeptierten Art mit Emotionen umzugehen, halten sie es davon ab, Selbstwertgefühl und Empathie zu entwickeln. Das ist genauso, als
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