Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist (German Edition)
auf. Doch warum müssen Erwachsene jene Kinder diskriminieren, die ihnen diese ultimativen Glücksgefühle nicht bescheren, die ihnen Kummer, Sorgen, schlaflose Nächte bereiten? Warum werden diese Kinder zu »Problemkindern« gemacht, warum schickt man sie in psychologische oder psychotherapeutische Spezialbehandlung, um sie auf den »richtigen Kurs« zu bringen?
Es heißt: Nur mit positiver Ausstrahlung kommen wir voran! Frust, Abneigung, Ärger, Wut auszudrücken ist verpönt. Offen mitzuteilen, was wir empfinden und was wir wollen, verkneifen wir uns sehr oft – aus Angst, ein solches Verhalten könnte »falsch« verstanden werden. Wir meiden den direkten Umgang, pflegen und perfektionieren hingegen den indirekten, der auf korrekten und freundlichen Schleichwegen daherkommt. Gegen Unaufrichtigkeit sind wir schon längst immun, wir nehmen sie als solche gar nicht mehr wahr. Dass unser Umfeld komischerweise nicht friedlicher, sondern noch aufgeladener und aggressiver geworden ist, wundert uns sehr. Solange ein Mensch die Fassung bewahrt, wird er gesellschaftlich akzeptiert – wenn er allerdings in eine Depression schlittert, staunen wir mit großen, unschuldigen Augen: »Wie, dieser Mensch war doch immer so heiter, so positiv, so fröhlich!« Wird er zum Amokläufer, verstehen wir die Welt nicht mehr: »Unglaublich, er war doch immer so nett, so korrekt, so unauffällig!«
Jeder will gleich »helfen« – mit Beschwichtigungen, Freundlichkeiten jeder Art und Rücksichtnahme ohne Ende. Keiner kommt auf die Idee, eine Plattform anzubieten, auf der Konflikte und Aggressionen offen angesprochen oder ausgetragen werden können.
»Kann es sein, dass Eltern, Erzieher und Pädagogen in eine andere Existenzsphäre entrückt sind, in der es ausschließlich Liebe gibt? Nein, keinesfalls! Sie haben bloß eine Art zu reden und sich zu verhalten angenommen, die der Form nach nicht als aggressiv gilt. Die Gewalt der Freundlichkeit und Korrektheit – so könnte man sie nennen. Es ist jene Art getarnter Aggression und verbaler Gewalt, die die Älteren und Eloquenteren auf Kosten der Jüngeren und weniger Eloquenten leichten Herzens und offen austragen – ohne jedes Risiko, denn die wahre Natur dieser Form von Aggression offenbart sich nur über die Erfahrung der Schwächeren. Und da die Auskünfte der Schwächeren gewohnheitsmäßig nicht ernst genommen, geschweige denn gehört werden, setzt sich die Gewalt der Freundlichkeit und Korrektheit kontinuierlich fort. Doch gerade sie verletzt die Integrität der Kinder am stärksten« (S. 35/36) – so Jesper Juul in dem vorliegenden Buch. Es ist den »Schwächeren« gewidmet. Juul will damit gewiss kein guter Mensch sein; er schreibt das Buch, weil er »wütend« (S. 10) ist. Dass sein Ärger über das Verhalten von Erwachsenen, die Aggression verbieten, echt ist, beweist jede Zeile.
Wie sehr wir Aggression in unserer persönlichen Entwicklung brauchen, ist bereits von vielen Therapeuten erkannt und brillant beschrieben worden – die Ansätze von George R. Bach und Herb Goldberg (»Keine Angst vor Aggression. Die Kunst der Selbstbehauptung«), Raymond Battegay (»Aggression – ein Mittel der Kommunikation?), Donald W. Winnicott (»Aggression – Versagen der Umwelt und antisoziale Tendenz«) und Jan-Uwe Rogge (»Kinder dürfen aggressiv sein«) sind wegweisend. Auch Jesper Juul zeigt anhand zahlreicher Fallbeispiele und Studien, was es bedeutet, wenn Menschen zu keiner konstruktiven Selbstbehauptung fähig sind und ihren Lebensweg verfehlen. Aber Juul analysiert nicht nur, sondern er fordert! Er appelliert direkt an jene, die das Geschick der »aggressiven« Kinder und Jugendlichen in der Hand haben – an Erzieher, Lehrer, Pädagogen, Therapeuten und Eltern. Der Appell ist nicht zu überhören, es gibt keinen Aufschub, das Buch endet nicht mit der letzten Zeile.
Ingeborg Szöllösi
Über Jesper Juul
Jesper Juul, geb. 1948 in Dänemark, Lehrer, Gruppen- und Familientherapeut, Konfliktberater und Buchautor; bis 2004 Leiter des Kempler Institute of Scandinavia in Odder, das er 1979 gründete. 1972 schloss er sein Studium der Geschichte, Religionspädagogik und europäischen Geistesgeschichte ab. Statt die Lehrerlaufbahn einzuschlagen, nahm er eine Stelle als Heimerzieher und später als Sozialarbeiter an und bildete sich in Holland und den USA bei Walter Kempler zum Familientherapeuten weiter. Jesper Juul ist Autor von mehr als einem Dutzend Bücher, die in viele Sprachen
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