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Agnes: Roman (German Edition)

Agnes: Roman (German Edition)

Titel: Agnes: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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küßte mich auf den Mund.
    »Sie ist krank«, sagte ich, »aber sie wird wieder gesund werden. Es war etwas zwischen uns, etwas Wichtiges. Und es ist nicht verloren.«
    »Ihr Männer seid Idioten«, sagte Louise, »ihr könnt nur lieben, wenn ihr zurückgestoßen werdet. Große Worte, immer diese großen Worte. Zwischen uns war auch etwas, heute nacht, und das war schön. Und morgen nacht könnte es wieder sein, und dann von Nacht zu Nacht noch ein paarmal. Und vielleicht würde mehr daraus, wenn du offen wärst. Aber du warst von vornherein nicht bereit dazu. Du hast mich von Anfang an in die eine Schublade geworfen.«
    »Du hast gesagt, daß du mich nicht liebst. Dort im Archiv.«
    »Dort habe ich es gesagt, aber heute nacht habe ich es nicht gesagt.«
    »Ich muß gehen.«
    »Du mußt nicht. Ich habe es nicht eilig.«
    »Ich bin kein guter Mann, Louise.«
    »Du bist nur betrunken.«
    »Ja. Und ich muß gehen. Vielen Dank für das Fest. Ich ruf dich an.«
    »Wünsch deiner Cinderella ein gutes neues Jahr«, sagte Louise bitter, und als ich schon die Treppe zum Hintereingang hinaufging, rief sie mir noch nach: »Bring mir mal einen ihrer Schuhe mit. Vielleicht haben wir dieselbe Größe.«
    Ich konnte die Wohnungstür nicht öffnen. Der Schlüssel ließ sich zwar ins Schloß stecken, aber ich konnte ihn nicht umdrehen. Ich versuchte es einige Minuten lang. Ich war nicht mehr betrunken, aber es war, als denke ich nicht in meinem Kopf, als schwebten meine Gedanken irgendwo über mir. Ich probierte alle Schlüssel an meinem Bund, auch den Wohnungsschlüssel aus der Schweiz, sogar jenen für meinen Koffer, den ich immer bei mir trage. Ich mußte Zeit gewinnen. Dann dachte ich, Agnes habe in meiner Abwesenheit das Schloß ausgewechselt oder irgendein betrunkener Idiot habe etwas ins Schlüsselloch gesteckt. Oder, dachte ich, Agnes hatte den Schlüssel steckenlassen, innen, absichtlich oder versehentlich. Ich klingelte. Es dauerte einige Minuten, und ich klingelte ein zweites und ein drittes Mal. Endlich öffnete sich die Tür einen Spaltbreit, soweit die Sicherheitskette es zuließ. Ein Japaner in weißem Morgenmantel schaute mich erschrocken an. Sofort begriff ich meinen Irrtum.
    »Ich glaube, ich bin im falschen Stockwerk«, sagte ich, »es tut mir schrecklich leid.«
    Der Japaner nickte, ohne das Gesicht zu verziehen, und schloß wortlos die Tür.
    Ich war ein Stockwerk zu tief. Ich stieg die Treppe hinauf. Das Treppenhaus war für Notfälle gedacht und war Tag und Nacht erleuchtet. Ich setzte mich auf eine Stufe. Aus dem benachbarten Schacht hörte ich den Lift vorüberfahren, und ich fragte mich, wer in der Kabine stehe und nur wenige Meter von mir entfernt in die Höhe oder in die Tiefe schoß. Ich hatte in dem Jahr, seitdem ich im Doral Plaza wohnte, niemanden kennengelernt, nur den Verkäufer unten im Laden. Und auch von ihm wußte ich nichts, außer daß er immer dazusein schien und daß er eine Vorliebe für schmutzige Witze und Anzüglichkeiten hatte. Er behandelte mich, als hätten wir ein Geheimnis miteinander, als seien wir seit Jahren Freunde, zwinkerte mir zu und machte Andeutungen, die ich nicht verstand. Aber in Wirklichkeit war er mir so fremd wie die Leute, die ich manchmal im Foyer sah und von denen ich nicht einmal wußte, ob sie im Haus wohnten oder ob sie nur zu Besuch hier waren. Endlich war es still, der Lift bewegte sich nicht mehr, und ich stand auf und ging weiter.

35
    Als ich die Wohnung betrat, hörte ich gleich das Summen meines Computers. Ich ging ins Arbeitszimmer. Auf dem Bildschirm waren Sterne zu sehen, die von einem Punkt in der Mitte aus in alle Richtungen wanderten. Schaute man auf den Mittelpunkt des Bildschirms, aus dem die Sterne kamen, hatte man das Gefühl, als fliege man ins Weltall, als werde man durch das Glas hindurch in einen unendlichen Raum hineingesogen. Ich hatte oft minutenlang davor gesessen, und Agnes hatte mich ausgelacht und gesagt, es sei nur die Illusion eines Raumes, in Wirklichkeit wanderten größer werdende Lichtpunkte auf einer Ebene nach außen, nicht umsonst heiße der Bildschirmschoner Starfield Simulation .
    Ich drückte eine Taste, und auf dem Bildschirm erschien der Schluß meiner Geschichte. Es war der neue Schluß, jener, den ich heimlich geschrieben hatte.
Lange schaute Agnes in die Sterne, die ihr auf dem Bildschirm entgegenkamen. Das Geheimnisvolle, dachte sie, ist die Leere in der Mitte. Sie fühlte, wie sie immer tiefer hineingezogen wurde.

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