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Agnes: Roman (German Edition)

Agnes: Roman (German Edition)

Titel: Agnes: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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nicht mehr davon. Aber ich merkte, daß die Angst noch immer da war, daß sie gewachsen und nun so groß war, daß Agnes nicht mehr darüber sprechen konnte. Sie klammerte sich statt dessen immer enger an mich, je mehr sie sich fürchtete. Ausgerechnet an mich.

2
    Ich saß in der Public Library und studierte, wie schon seit Tagen, alte Bände der Chicago Tribune , als ich Agnes zum erstenmal sah. Es war im April letzten Jahres. Sie setzte sich im großen Lesesaal mir gegenüber, zufällig wohl, die meisten Plätze waren besetzt. Sie hatte ein Sitzkissen mitgebracht, einen Schaumstoffkeil. Vor sich, auf den Tisch, legte sie einen Schreibblock, daneben einige Bücher, zwei oder drei Stifte, einen Radiergummi, einen Taschenrechner. Als ich von meiner Arbeit aufschaute, traf ich ihren Blick. Sie senkte die Augen, nahm das oberste Buch vom Stapel und begann zu lesen. Ich versuchte, die Titel der Bücher zu entziffern, die sie mitgebracht hatte. Sie schien es zu bemerken und zog den Stapel mit einer leichten Drehung gegen sich.
    Ich arbeite an einem Buch über amerikanische Luxuseisenbahnwagen und war gerade dabei, die Stellungnahme eines Politikers zum Armee-Einsatz während des Pullman-Streiks zu lesen. Ich hatte mich verrannt in diesen Streik, er spielte für mein Buch keine Rolle, aber er faszinierte mich. Ich habe mich in meiner Arbeit immer von meiner Neugier leiten lassen, und diesmal hatte sie mich weit von meinem Thema weggeführt.
    Seitdem Agnes sich mir gegenüber gesetzt hatte, konnte ich mich nicht mehr konzentrieren. Ihr Äußeres war nicht auffallend, sie war schlank und nicht sehr groß, ihr braunes Haar war schulterlang und dicht, ihr Gesicht bleich und ungeschminkt. Nur ihr Blick war außergewöhnlich, als könne sie mit den Augen Worte übermitteln.
    Ich kann nicht behaupten, ich hätte mich schon da in sie verliebt, aber sie interessierte mich, beschäftigte mich. Immer wieder schaute ich zu ihr hinüber, es war mir bald selbst peinlich, aber ich konnte nicht anders. Sie reagierte nicht, sah nie auf, dennoch war ich mir sicher, daß sie meine Blicke bemerkte. Endlich stand sie auf und ging hinaus. Ihre Sachen ließ sie auf dem Tisch liegen, nur den Taschenrechner packte sie ein. Ich folgte ihr, ohne recht zu wissen weshalb. Als ich in die Eingangshalle kam, war sie nicht mehr zu sehen. Ich verließ das Gebäude und setzte mich draußen auf die breite Freitreppe, um eine Zigarette zu rauchen. Obwohl es nicht kalt war, fröstelte mich nach dem stundenlangen Sitzen in der überheizten Bibliothek. Es war vier Uhr nachmittags, und auf den Gehsteigen mischten sich unter die Touristen und Shopper erste Büroangestellte auf dem Nachhauseweg.
    Ich spürte schon die Leere des Abends, der vor mir lag. Ich kannte kaum jemanden in der Stadt. Niemanden, um genau zu sein. Ein paarmal hatte ich mich verliebt in ein Gesicht, aber ich hatte gelernt, solchen Gefühlen auszuweichen, bevor sie zu einer Bedrohung wurden. Ich hatte einige gescheiterte Beziehungen hinter mir und hatte mich, ohne wirklich einen Entschluß zu fassen, für den Moment mit meinem Alleinsein abgefunden. Dennoch wußte ich, daß ich nicht mehr in Ruhe würde arbeiten können, solange mir die unbekannte Frau gegenübersaß, und so beschloß ich, nach Hause zu gehen.
    Ich drückte meine Zigarette aus und wollte eben aufstehen, als die Frau sich kaum einen Meter entfernt neben mir auf die Treppe setzte, in der Hand einen Pappbecher mit Kaffee. Im Gehen hatte sie etwas Kaffee verschüttet, und sie stellte den Becher neben sich auf die Stufe und wischte sich mit einem zerknüllten Papiertaschentuch umständlich die Finger trocken. Dann nahm sie ein Paket Zigaretten aus dem kleinen Rucksack, den sie bei sich trug, und begann, nach Streichhölzern oder einem Feuerzeug zu suchen. Ich fragte sie, ob sie Feuer brauche. Sie wandte sich mir zu, als sei sie überrascht, aber in ihren Augen sah ich keine Überraschung, sah ich etwas, was ich nicht verstand.
    »Ja, bitte«, sagte sie.
    Ich zündete ihre Zigarette an und mir selbst eine zweite, und wir rauchten nebeneinander, ohne zu sprechen, aber einander zugewandt. Irgendwann stellte ich eine belanglose Frage, und wir begannen zu reden, über die Bibliothek, die Stadt, das Wetter. Erst als wir aufstanden, fragte ich sie nach ihrem Namen. Sie sagte, sie heiße Agnes.
    »Agnes«, sagte ich, »ein seltsamer Name.«
    »Sie sind nicht der erste, der das sagt.«
    Wir gingen zurück in den Lesesaal. Das kurze Gespräch

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