Agnes: Roman (German Edition)
Besuch ist. Ich bin etwas erkältet.« Als sie aufgelegt hatte, ging ich zu ihr.
»Wissen deine Eltern nichts von mir?« fragte ich.
»Hast du gelauscht?«
»Ich habe nur gehört, daß du gesagt hast, ein Freund sei zu Besuch.«
»Ich erzähle ihnen nicht viel von mir. Ich glaube nicht, daß es sie interessiert. Sie würden sich nur Sorgen machen.«
»Wegen mir?«
»Wegen allem. Sie wissen kaum etwas von mir.«
»Ist es, weil sie in Florida wohnen?«
»Meine Mutter wollte bei mir bleiben, aber mein Vater … Ich habe ihnen gesagt, daß ich sie dort nicht besuchen werde. Und ich habe sie nicht besucht.«
»Du bist hart.«
»Es war auch hart für mich, daß sie gingen. Jetzt brauche ich sie nicht mehr, und sie brauchen mich noch nicht. Sie werden schon kommen …«
»Woher haben sie meine Nummer?«
»Meine Anrufe werden umgeleitet.«
Es war nie vorher ein Anruf für Agnes gekommen. Ich ging zurück ins Arbeitszimmer. Ich hatte beschlossen, das, was ich gestern geschrieben hatte, zu vergessen und einen neuen Schluß zu schreiben. Aber ich löschte den alten Text auf dem Computer nicht, speicherte ihn statt dessen unter dem Namen »Schluß2«. Sobald ich zu schreiben begann, fühlte ich mich erleichtert. Ich glaubte, wiedergutmachen zu können, was ich gestern falsch gemacht hatte. Ich schrieb bewußter als sonst, schneller, ich wußte, wohin ich wollte, und nahm den kürzesten Weg.
Ich beschrieb die Feiertage ganz so, wie sie gewesen waren, nur ohne das Gefühl der Fremdheit zwischen Agnes und mir, ohne ihr Weinen und ohne das Geschenk von Louise. Ich schrieb von einer wunderbaren Woche zwischen Weihnachten und Neujahr. Wir kochten zusammen, spazierten, dick eingepackt, durch den verschneiten Grant Park, gingen ins Adler Planetarium, wo Agnes mir die Sterne erklärte, und in die Bibliothek, wo wir alte Weihnachtsgeschichten suchten.
Agnes war wieder bei mir. Wir wußten jetzt, daß wir zusammengehörten, und dieses Wissen schien ihr über den Verlust des Kindes hinwegzuhelfen. Wie uns das Kind auseinandergebracht hatte, führte sein Verlust uns wieder zusammen. Der Schmerz verband uns enger, als uns das Glück verbunden hatte.
Wir feierten Neujahr zu Hause. Wir gingen nicht aufs Dach, denn Agnes war etwas erkältet. Wir saßen am Fenster und schauten dem Schneetreiben zu.
Aus dem Schlafzimmer hörte ich Agnes Cello spielen. Sonst stört mich beim Schreiben jedes Geräusch, aber jetzt war ich froh, abgelenkt zu werden. Ich schrieb, fast ohne nachzudenken, geriet aber nicht in den zugleich betäubten wie konzentrierten Zustand, in dem ich noch gestern gearbeitet hatte.
Wir hatten den Fernseher eingeschaltet, um uns die Direktübertragung der Neujahrsfeier vom Times Square in New York anzuschauen. Zehntausende hatten sich auf dem Platz versammelt und starrten auf den riesigen, künstlichen Apfel, der langsam zu ihnen herabschwebte. Genau um Mitternacht berührte er unter dem Jubel der Menge den Boden. Die Menschen schrien und umarmten einander. Irgendwo begannen sie zu singen, der Gesang wuchs aus dem Lärm, der langsam erstarb, bis man nichts anderes mehr hörte als das alte Lied.
»Should auld acquaintance be forgot
And never brought to mind?«
In Chicago war es erst elf, aber auch Agnes und ich standen auf. Wir umarmten uns und stießen auf unsere Zukunft an, während die Menschen in New York noch immer sangen:
»But seas between us broad have roard,
Sin auld lang syne.
For auld lang syne, my jo,
For auld lang syne ,
We’ll take a kiss o’ kindness yet
For auld lang syne.«
Agnes hatte aufgehört zu spielen und war ins Arbeitszimmer gekommen.
»Ich möchte nicht, daß du die Geschichte zu Ende schreibst«, sagte sie.
»Warum nicht?«
»Es ist nicht gut. Wir brauchen sie nicht.«
»Aber ich bin fertig.«
»Wirklich?« sagte sie. Sie zögerte. »Geht sie gut aus?«
»Ja, natürlich. In Amerika gehen doch alle Geschichten gut aus.«
Agnes lächelte. »Liest du vor?« fragte sie.
»Du mußt ins Bett«, sagte ich.
32
Ich kann nicht gut vorlesen. Aber das war nicht der Grund, weshalb Agnes enttäuscht war. Sie sagte nichts, und auch ich saß schweigend neben ihr auf dem Bett.
»Bist du zufrieden?« fragte ich.
»Bist du zufrieden?«
»Ich weiß nicht«, sagte ich. Ich war nicht überzeugt vom Schluß der Geschichte. Er war mir nicht gelungen, er war nicht lebendig, nicht wahr. Ich hatte ihn mir so gewünscht und hatte ihn so geschrieben. Er war wie ein Vorsatz, den man zu Silvester
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