Albspargel
Nein, ich bin kein Tigerfelder. Wer kennt schon Tigerfeld? Dennoch, es ist wichtig für diesen Bericht: ein winziges Nest auf der Schwäbischen Alb, ein unbedeutendes katholisches Pfarrdorf auf der Hochfläche an der B 312, in der Mitte gelegen zwischen Reutlingen und Riedlingen, vom Unterland her gesehen acht Kilometer vor dem Kloster Zwiefalten.
Zwanzig Jahre lang wollte ich nicht mehr hierher!
Seltsam stark empfand ich nun das letzte Wegstück als Heimkehr – alles in mir schien sich dagegen zu sträuben – darüber wollte ich jetzt nicht nachdenken. Ich beschloss, die kleine Wanderung zu genießen, dehnte sie sogar aus und nahm um die Mittagszeit den kleinen Umweg von Pfronstetten aus über Aichstetten. Den Wagen hatte ich vor der
Rose
in Pfronstetten stehen lassen, meinem Standquartier für die nächste Zeit. Ich wollte zu Fuß im Zauberort meiner Kindheit eintreffen. September, Rückseitenwetter, für einen Meteorologen gerade hier oben besonders eindrucksvoll: Bewölkung
Cumulus congestus
, böiger Nordwestwind hinter der Kaltfront, hoher Luftdruck, keine Schauer. Wechsel von Sonne und Wolken.
Auf der Albhochfläche wirken die Quellwolken gewaltiger – die Wolkenunterseiten abgeschnitten wie vom Messer eines Riesen. Sie ziehen auf dem Taupunkt wie auf einem See kristallklaren Wassers – eine ausgedehnte dunkle Fläche unter den blendend weiß hoch aufquellenden Wolkengebirgen. Auf den Feldern die wandelnden Schatten. Die Sonne, wenn sie eine Lücke fand, im Gesicht glühend wie im Sommer, dann wieder die kalten Windstöße.
Die Hochfläche der Alb, Felder und Wiesen, eingerahmt von Hügeln und Wäldern. Hinter mir der Kirchturm von Pfronstetten, zwischen Wäldern und Äckern im Westen Wilsingen; vor mir, eingebettet in Obstwiesen und Krautgärten, das Betonkirchlein von Aichstetten mit seinem modernistisch schrägen Turm; nach Norden die Wälder um das Tiefental und die Aichelauer Steige.
Ehrlich, das Herz schlug. Es hört sich so billig an: »Back to the roots« und so weiter, auf Papier und im Fernsehen zigtausendemal zu Tode geritten. Und doch war es so. Jeder Schritt war vertraut, scheinbar immer noch dieselben Obst- und Vogelbeerbäume links und rechts der Straße, mit ihren Flechten an Stämmen und Ästen, wie vor über zwanzig Jahren.
Und daneben pochte das Schreckliche.
Ich stieg hinauf auf den Hochwasserbehälter zwischen Aichstetten und Tigerfeld, einen heute von dichtem Gebüsch umwachsenen kleinen, steilen, früher kahlen Höcker. Da waren nach Westen die Wälder um den Alten Hau, das düstere Hart, davor das schwarze Auchtweidle und jenseits der flachen Senke des Hasentals der Winkel, eingerahmt von Wald; da waren im Süden, halb verdeckt durch das Dorf Tigerfeld, das steinige Annaleu, die Altspreite und die Schalkshüle. Dann auf der anderen Seite der Bundesstraße 312 östlich vom »Schloss« das Fetzenried, ein heller Buchenwald, von dem aus sich der dunklere Laiherwald nach Südosten Richtung Huldstetten dehnte, davor am Hang der Schneidergarten und das Pfarrwiesle, dahinter der Ganswinkel, und wie die Fluren in Tigerfeld sonst noch heißen. Ich hätte sie im Schlaf hersagen können. Da war im Osten der Weg mit den vielen Vogelbeerbäumen, der sich an einem Flurkreuz gabelt und hinüberführt zum St. Georgenhof und als Wanderweg vorbei am Lämmerstein über das Digelfeld nach Hayingen oder hinunter in das Glastal zur Wimsener Höhle und von dort der Aach entlang zum Kloster Zwiefalten.
Vom Wasserbehälter aus hatte man mir als Kind zum ersten Mal die Alpenkette gezeigt: Schneeberge im August!
Die Feldwege hier oben hatte ich noch als »Albautobahnen« in Erinnerung – Fahrstreifen in Reifenbreite aus gelbweißem Albkies, dazwischen, von den Rädern der Fuhrwerke nicht erreicht, der Grünstreifen aus Breitwegerich, Vogelknöterich und dem Einjährigen Rispengras – jetzt alles längst asphaltiert.
Ein paar kalte Windböen zerrten an mir.
Der Aichstetter Weg, den ich genommen hatte, war jetzt eine moderne Fahrbahn, abgesenkt und beim Wasserbehälter eingeschnitten in eine Wölbung des Bodens, kaum Verkehr. Daneben lief das geteerte Sträßlein für die landwirtschaftlichen Fahrzeuge. Da stand wie eh und je das Aichstetter Käppele, jetzt aber durch die in den Hang darunter eingeschnittene Straße seltsam erhöht; rührend der Blumenstrauß, den jemand aufgestellt hatte.
Drüben, ein paar hundert Meter weiter nach Westen, parallel zu meinem Weg von Aichstetten, sah ich die Autos
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