Alera 02 - Zeit der Rache
Narian und London trugen, in den zweiten Stock hinauf, denn ich vermutete dort die geringsten Zerstörungen. Die Hohepriesterin und der Hauptmann folgten uns. Auf dem Weg dorthin mühte ich mich, meine Gefühle im Zaum zu halten, denn die Bilder der Toten schienen in diesen Mauern zu spuken. Ich konnte nur ahnen, was Cannan empfinden mochte. Hier, im Herzen des feindlichen Territoriums, das symbolisch stand für den Tod so zahlreicher seiner Offiziere und natürlich auch seines Bruders.
Nachdem sie befohlen hatte, die beiden Kranken in verschiedenen Gästezimmern zu lagern, entließ Nantilam ihre Soldaten. Dann suchte sie als Ersten Narian auf. Ich folgte ihr und wusste, sie würde versuchen, ihn zu heilen. Cannan hatte nichts dagegen einzuwenden, denn offenbar war er zu dem Schluss gekommen, dass ich in ihrer Nähe ungefährdet war. Er folgte uns jedoch nicht, sondern blieb bei seinem verwundeten Gardisten.
»Ich muss meine Kraft zwischen London und ihm teilen«, erklärte Nantilam mir, während sie sich einen Stuhl neben Narians Bett zog. Dann setzte sie sich und fühlte mit zwei Fingern den Puls an seinem Hals.
»Er lebt noch«, murmelte sie, und die Erleichterung in ihrer Stimme war unüberhörbar. Ich wusste nicht, wie genau sie zu Narian stand, aber offenbar hegte sie eine gewisse Zuneigung zu ihm.
Ohne ein weiteres Wort legte sie ihre Hände übereinander auf Narians Brust und fuhr damit fort, was sie noch auf der Waldlichtung begonnen hatte. Nach etwa einer Viertelstunde riss sie sich von ihm los, obwohl ihm noch keinerlei Besserung anzusehen war. Aber sie wusste wohl, dass sie etwas von ihrer Energie für London zurückbehalten musste.
Dann gingen sie und ich den Flur hinunter in das Zimmer, wo Cannan neben seinem fast leblosen Stellvertreter wachte. Wie schon in Narians Kammer zog sie sich einen Stuhl an seine Seite und legte ihm ihre Hände auf. Cannan sagte kein Wort, blieb aber in der Nähe. Sein Verhalten erinnerte mich daran, als Steldor seiner schrecklichen Verwundung fast erlegen wäre. Man sah ihm den ungeheuren Respekt für den Elitegardisten an, der alles riskiert hatte, um das Königreich und die Menschen, die er liebte, zu retten.
Ich bezog ebenfalls ein Zimmer im zweiten Stock, während Cannan sich entschloss, auf Decken am Boden von Londons Zimmer zu schlafen. Nachdem er so viele Tage und Stunden unter den Torturen des Overlord gelitten hatte, musste London viel härter kämpfen als Narian, und sein Überleben war alles andere als gewiss. Obwohl die Hohepriesterin mehrmals versicherte, uns würde nichts geschehen, drangen wir nicht in andere Bereiche des Palastes vor, denn wir sahen keinen Grund, uns einem unnötigen Risiko auszusetzen.
Die Hohepriesterin hatte Wachen vor den Zimmern der beiden Männer postiert, die sie zu heilen versuchte, und schickte Diener zu ihrer übrigen Versorgung. Außerdem ließ sie Angehörige ihrer Garde den Leichnam ihres Bruders zurück nach Cokyri bringen. Dabei gab sie ihren Truppen keine Erklärung über seine Todesursache. Ich bezweifelte, ob die wahre Begebenheit je bekannt würde. Vielmehr würde man ihn in seiner Heimat wohl künftig als den Mann rühmen, der Hytanica erobert hatte. Weder Cannan noch ich wussten, was die Zukunft bringen würde. Jetzt, wo Nantilam Alleinherrscherin über Cokyri war. Aber wir hatten keine andere Wahl, als ihr zu vertrauen. Wir hatten unser Schicksal in dem Moment in ihre Hände gelegt, als wir entschieden hatten, mit London hierher zurückzukehren.
In den folgenden Tagen wanderten Nantilam und ich ständig zwischen den beiden Zimmern hin und her und kümmerten uns um die beiden Männer, an denen uns so viel lag. Diener hatten sie gebadet und ihre schmutzige Kleidung gegen saubere Nachthemden getauscht. Sie lagen leicht zugedeckt in frischer Bettwäsche und wirkten manchmal geradezu engelsgleich, dann wieder wanden sie sich vor Schmerzen. Insbesondere London litt fürchterlich, und meine Gedanken kehrten immer wieder zu dem Bericht zurück, den meine Mutter mir einmal von seiner schweren Erkrankung gegeben hatte, nachdem er vor achtzehn Jahren schon einmal Ähnliches durchgestanden hatte. Wie immer war sein Lebenswille beeindruckend, doch ich fürchtete, dass er diesmal nicht genügen könnte. Es war geradezu herzzerreißend, mit ansehen zu müssen, wie die beiden Männer, die mir am meisten bedeuteten, derart litten. Wie sehnte ich mich nach dem Spott in den indigofarbenen Augen, die mir so vertraut waren, und nach
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