Alex Cross 8 - Mauer des Schweigens
auf eine Reise geschickt, ein Ritual, um die Toten zu ehren. Böse Geister sind die Seelen derer, die ermordet wurden oder die ohne anständige Bestattung beerdigt wurden. Die Strohpuppe ist eine Nachricht, eine Drohung, welche die Personen, die dafür verantwortlich sind, daran erinnern sollen, dass eigentlich sie die Stelle der Puppe einnehmen sollten.«
Ich nickte. »Sagen Sie mir alles, was ich wissen muss. Ich möchte nicht noch einmal herkommen müssen.«
»Brauchen Sie auch nicht. Ich habe kein Bedürfnis, zu beichten. Das ist eine eher westliche Auffassung.«
»Sie fühlen sich nicht schuldig? Unschuldige Menschen sind gestorben.«
»Und werden weiterhin sterben. Was wollen Sie wirklich wissen? Glauben Sie, ich schulde Ihnen irgendwas, weil Sie so gute Arbeit als Detective geleistet haben?«
»Dann geben Sie zu, dass Sie mich benutzt haben?«
Luu zuckte die Schultern. »Ich gebe gar nichts zu. Warum sollte ich? Ich war ein Guerillakämpfer und habe fast sechs Jahre lang im Dschungel von An Lao überlebt, danach im Dschungel von Kalifornien und New York. Ich benutze, was immer mir zur Verfügung steht. Ich versuche, das Beste aus jeder Situation herauszuschlagen. Sie machen das Gleiche, da bin ich sicher.«
»Auch hier im Gefängnis?«
»Besonders hier im Gefängnis. Sonst würde sogar ein relativ kluger Mensch verrückt werden. Sie haben den Ausdruck ›grausam und ungewöhnlich‹ gehört. Eine Zelle ist drei mal vier Meter groß. Darin lebe ich dreiundzwanzig Stunden pro Tag. Kommunikation nur durch den Schlitz in der Tür.«
Ich beugte mich über den Tisch. Mein Gesicht berührte fast das von Luu. Blut rauschte in meinem Kopf. Tran Van Luu war der Fußsoldat. Er musste es sein. Und er hatte die Antworten, die ich wollte. War er verantwortlich für all die Morde?
»Warum haben Sie Sergeant Ellis Cooper umgebracht? Warum die anderen? Weshalb mussten sie sterben? Geht es allein um Rache? Sagen Sie mir, was, zum Teufel, damals im An-Lao-Tal geschehen ist. Sagen Sie es mir, dann gehe ich.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich habe Ihnen genug gesagt. Gehen Sie, Detective. Mehr brauchen Sie nicht zu hören. Ja, ich bin Fußsoldat. Die anderen Antworten sind zu schlimm, als dass die Menschen in Ihren Land sie hören könnten. Lassen Sie diesen Mordfall auf sich beruhen. Nur dieses eine Mal, Detective.
Lassen Sie ihn auf sich beruhen.«
107
Ich traf keinerlei Anstalten, aufzustehen und zu gehen.
Tran Van Luu betrachtete mich leidenschaftslos, dann lächelte er. Hatte er das erwartet? Sturheit? Begriffsstutzigkeit? Hatte er mich deshalb in die Sache hereingezogen? Hatte er mit Kyle Craig über mich gesprochen? Wie viel wusste er? Alles oder nur einige Stücke des Puzzles?
»Sie machen weiter. Das ist sehr interessant für mich. Ich verstehe Männer wie Sie nicht. Sie wollen unbedingt wissen, warum schreckliche Dinge geschehen. Sie wollen für Gerechtigkeit sorgen, wenn auch nur gelegentlich.
Sie haben doch schon mit abartigen Killern zu tun gehabt, mit Gary Soneji, Geoffrey Shafer und selbstverständlich Kyle Craig. Ihr Land hat viele Mörder hervorgebracht – Bundy, Dahmer und viele andere –, ich habe keine Ahnung, wieso das in einem zivilisierten Land geschieht. In einem Land, das so gesegnet ist.«
Ich schüttelte den Kopf. Das wusste ich auch nicht. Aber Luu wollte hören, was ich zu diesem Thema zu sagen hatte. Hatte er Kyle dieselben Fragen gestellt? »Ich hatte immer das Gefühl, dass es etwas mit hochfliegenden Erwartungen zu tun hat. Viele Amerikaner erwarten, glücklich zu sein und geliebt zu werden. Wenn es nicht so kommt, geraten viele in Wut. Besonders, wenn es uns als Kind passiert. Statt Liebe erfahren wir Hass und Missbrauch. Ich verstehe einfach nicht, warum so viele Amerikaner ihre Kinder missbrauchen.«
Luu starrte mich an. Seine Augen bohrten sich in meine. War er ein eigenartiger neuer Typus von Killer – ein Lord Scharfrichter? Er schien ein Gewissen zu haben. Er war ein Philosoph. Ein philosophischer Krieger? Wie viel wusste er? Endete der Fall hier?
»Warum hat jemand die Ermordung von Ellis Cooper inszeniert?«, fragte ich schließlich. »Eine einfache Frage. Würden Sie sie mir beantworten?«
Er verzog das Gesicht.
»In Ordnung, ich werde es tun. Cooper hat Sie und Ihren Freund Sampson angelogen. Er hatte keine Wahl, er musste lügen. Sergeant Cooper war im Tal An Lao gewesen, obwohl das nicht in seiner Akte steht. Ich sah, wie er ein zwölfjähriges Mädchen
Weitere Kostenlose Bücher