Alex Cross 8 - Mauer des Schweigens
erkannte ich, dass Nana für uns alle eine Mutter gewesen war. Nana-Mama war mehr Mama als Nana.
»Geht es ihr gut?«, fragte Damon. »Irgendwas stimmt nicht, oder? Findest du nicht, dass es zu lange dauert?«
Unglücklicherweise dachte ich das auch.
»Es geht ihr gut«, versicherte ich den Kindern.
Noch mehr Zeit verging, unendlich langsam. Endlich kam Dr. Coles ins Wartezimmer. Ich holte schnell Luft und bemühte mich, den Kindern nicht zu zeigen, wie nervös ich tatsächlich war.
Dann lächelte Kayla Coles. Was für ein herrliches strahlendes Lächeln, das schönste, das ich seit langem gesehen hatte.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich.
»Alles bestens«, antwortete sie. »Eure Nana ist eine zähe alte Dame. Sie fragt schon nach euch.«
103
Wir durften Nana eine Stunde im Wachzimmer besuchen, dann bat man uns, zu gehen. Sie musste sich ausruhen.
Gegen elf Uhr setzte ich die Kinder an der Schule ab. Danach fuhr ich nach Hause, um mich in meinem Arbeitszimmer wieder in die Arbeit zu stürzen.
Ich studierte für Ron Burns einen eigenartigen, aber faszinierenden Fall, bei dem es um verurteilte Sexualtäter ging. Im Gegenzug hatte er mir Personalakten der US-Armee besorgt, die ich überprüfen wollte. Die meisten stammten direkt aus dem Pentagon. Ein Thema war die »Drei blinden Mäuse«.
Wer war der wahre Mörder? Wer hatte Thomas Starkey Befehle erteilt? Wer hatte die Morde sanktioniert? Warum hatte man gerade diese bestimmten Männer als Zielpersonen gewählt?
Und am wichtigsten: Warum hatte man ihnen Morde angehängt, anstatt sie von den »Drei blinden Mäusen« umbringen zu lassen? War das Ziel, ihnen Angst einzujagen – Angst, dass man sie jagte, dass jemand über ihr Leben bestimmte?
Zwischendurch dachte ich immer wieder an Nana und wie es ihr wohl ging und wie sehr ich sie vermisst hätte, wäre am Morgen etwas schief gelaufen. Eine schreckliche Vorstellung tauchte immer wieder auf. Kayla Coles würde anrufen und mir sagen: Es tut mir so Leid, aber Nana ist von uns gegangen. Wir wissen nicht, was schief gegangen ist. Es tut uns so Leid.
Der Anruf kam jedoch nicht, und ich vergrub mich in meiner Arbeit. Morgen würde Nana nach Hause kommen. Ich musste aufhören, mir wegen ihr Sorgen zu machen, und meinen Verstand sinnvoller einsetzen.
Die Unterlagen der Armee waren interessant, aber so deprimierend wie eine Steuerprüfung. Offenbar hatte es in Vietnam, Laos und Kambodscha verbrecherische Aktivitäten gegeben.
Aber die Armee hatte mindestens ein Auge zugedrückt und nicht genau hingeschaut, was sich dort abspielte. Selbstverständlich gab es keinerlei zivile Organe wie die Polizei, um zu ermitteln. Auch die Presse hatte keine Möglichkeit, darüber zu berichten. Nur selten machten sie in den kleinen Dörfern Interviews mit Familien von Opfern. Wenige amerikanische Reporter sprachen vietnamesisch. Das Gute und das Schlechte dabei war, dass die Armee oft Feuer mit Feuer bekämpft hatte. Vielleicht war das die einzige Möglichkeit, einen effektiven Guerillakrieg zu führen. Aber trotzdem wusste ich immer noch nicht, was dort drüben geschehen war, um die Morde hier in den Vereinigten Staaten in den letzten Jahren in Gang zu setzen.
Ich verbrachte etliche unangenehme Stunden damit, die Personalakten von Colonel Thomas Starkey, Captain Brownley Harris und Sergeant Warren Griffin durchzusehen. Laut diesen Papieren waren ihre militärischen Lebensläufe makellos. Ich ging bis Vietnam zurück – das Muster wiederholte sich. Starkey war ein hochdekorierter Offizier, Harris und Griffin gute Soldaten. In den Akten stand nichts über die Morde, die das Trio in Vietnam begangen hatte. Kein einziges Wort.
Ich wollte wissen, wann sie sich kennen gelernt und wo sie gemeinsam gedient hatten. Ich blätterte weiter und hoffte, doch ich fand den Verknüpfungspunkt nicht. Ich wusste, dass sie zusammen in Vietnam und Kambodscha gekämpft hatten, und schaute jede Seite ein zweites Mal durch.
Nichts, in keiner Akte stand, dass sie in Südostasien zusammengearbeitet hatten. Kein gottverdammtes Wort.
Ich lehnte mich zurück und blickte auf die Fifth Street hinaus. Es gab nur eine logische Schlussfolgerung für mich, und die gefiel mir ganz und gar nicht.
Die Akten waren manipuliert worden.
Aber warum? Und von wem?
104
Es war noch nicht vorbei.
Ich spürte es in der Magengrube und hasste dieses flaue Gefühl, diese Unsicherheit, den fehlenden Abschluss. Oder konnte ich vielleicht nur nicht loslassen? Alle diese
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