Alex Rider 4/Eagle Strike
Natürlich konnte er zur Polizei gehen, konnte ihr erzählen, dass er ein Spion ist, der schon dreimal für den Britischen Militärgeheimdienst MI6 gearbeitet hat. Ja, könnte er sagen, ich habe Yassen ganz sicher wiedererkannt und ich weiß, wer und was der Russe ist, und überhaupt findet heute Nachmittag ein Mord statt, aber er kann noch verhindert werden.
Und was würde ihm das einbringen? Brüllendes Gelächter. Sein Französisch würden die Polizisten zwar gut verstehen, ihm aber kein Wort abkaufen. Schließlich war er nichts weiter als ein 14-jähriger Schüler aus England, ein braun gebrannter Junge mit Sand im Haar. Sie würden ihn bedauernd ansehen und dann zur Tür hinausschieben.
Okay, zweite Möglichkeit: Er konnte Sabina und ihre Eltern einweihen. Aber auch das wollte Alex nicht. Schließlich hatten sie ihn hierher eingeladen. Warum sollte er ihnen mit dieser Mordgeschichte die Ferien verderben? Außerdem würden sie ihm wahrscheinlich genauso wenig glauben wie die Polizei. Alex hatte schon einmal versucht, Sabina die Wahrheit zu sagen, als er mit ihrer Familie ein paar Tage in Cornwall verbracht hatte. Sie hatte geglaubt, er mache Witze.
Er blickte sich um: Touristenläden, Eisdielen, unzählige glückliche Menschen, die sich durch die Gassen schoben. Wie auf einer Ansichtskarte. Die wirkliche Welt. Warum zum Teufel sollte er sich schon wieder mit Spionen und Profikillern einlassen? Er verbrachte hier seine Ferien! Alles andere ging ihn nichts an! Gar nichts! Sollte Yassen doch abknallen, wen er wollte. Alex würde ihn sowieso nicht aufhalten können, selbst wenn er es versuchte. Nei n – es war weit besser, zu vergessen, dass er den Russen überhaupt kannte.
Alex holte tief Luft und ging die Straße entlang zum Strand zurück, zu Sabina und ihren Eltern. Unterwegs überlegte er, welche Ausrede er ihnen auftischen konnte: Er brauchte einen plausiblen Grund dafür, dass er so plötzlich verschwunden war.
A n diesem Nachmittag ließen sich Sabina und Alex von einem Bauern aus dem Dorf nach Aigues-Mortes mitnehmen, einer Festungsstadt am Rande der Salzsümpfe. Sabina wollte sich endlich einmal von ihren Eltern abseilen, wollte sich einfach nur in ein französisches Café setzen und dem Gedrängel der Einheimischen und Touristen auf den Straßen zusehen. Sie hatte ein Punktesystem entwickelt, mit dem sie gut aussehende französische Jungs bewertet e – Punktabzug gab es für dünne Beine, schiefe Zähne und miserable Klamotten. Bisher hatte keiner mehr als sieben von insgesamt zwanzig möglichen Punkten geschafft. Normalerweise hätte es Alex genossen, einfach neben ihr zu sitzen und ihr lautes, frisches Lachen zu hören.
Normalerweise. Aber nicht an diesem Nachmittag.
Nichts stimmte nun mehr. Die gewaltigen Mauern und Türme um ihn herum kamen ihm meilenweit entfernt vor und die Touristenmengen schienen sich wie in Zeitlupe zu bewegen. Nur zu gern hätte Alex diesen Nachmittag genossen. Er sehnte sich danach, einmal normale Ferien zu erleben. Aber seit er Yassen gesehen hatte, war nichts mehr wie vorher.
Alex hatte Sabina bei einem Tennisturnier in Wimbledon kennengelernt, wo er Balljunge und sie Ballmädchen gewesen waren. Sie hatten sofort Freundschaft geschlossen. Sabinas Mutter Liz war Modedesignerin, ihr Vater Edward Journalist. Geschwister hatte Sabina nicht. Hier in Südfrankreich hatte Alex den Vater noch nicht sehr oft zu Gesicht bekommen. Er war erst später mit dem Zug aus Paris angereist und hatte seither an irgendeinem Zeitungsartikel gearbeitet.
Sabinas Familie hatte ein Haus am Ortsrand von Saint-Pierre gemietet, direkt am Ufer der Petit Rhône. Es war ein sehr einfaches, für diese Gegend typisches Haus mit leuchtend weißen Mauern und blauen Fensterläden. Das Dach war mit Lehmziegeln gedeckt, die im Laufe der Jahre von der Sonne dunkel gebrannt worden waren. Das Haus hatte drei Schlafzimmer und im Erdgeschoss eine luftige, altmodisch eingerichtete Küche. Von hier führte eine Tür in den verwilderten Garten und zum Swimmingpool. Direkt daneben lag ein Tennisplatz, durch dessen Asphaltbelag Unkraut spross. Alex hatte das Haus sofort gemocht. Von seinem Schlafzimmerfenster aus hatte er einen wunderbaren Blick über den Fluss. Abends saßen er und Sabina oft stundenlang auf einem alten Weidensofa, unterhielten sich oder schauten gedankenverloren auf den Fluss hinaus.
Die erste Ferienwoche war wie im Flug vergangen. Sie schwammen im Pool oder im Meer, das kaum eine Meile
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