Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alias XX

Alias XX

Titel: Alias XX Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joel Ross
Vom Netzwerk:
wollen?«
    Tom stieg am Tooting Broadway zu. Jemand riet ihm, auf die Piccadilly Line umzusteigen, also hielt er sich daran. Mütter und Kinder drängten sich in Scharen in die U-Bahn-Stationen – jede Woche verließen zehntausend Evakuierte London, und zweitausend kamen auf dem gleichen Weg zurück. Sie schienen regelrecht in Festtagsstimmung, und Tom ertappte sich dabei, wie er einem frisch geschrubbten Gesicht zulächelte, einem Mädchen mit einem roten Band im Haar, das zu einer komplizierten Schleife gebunden war.
    Statt Schultaschen trugen sie Pappkartons mit Gasmasken. London hatte bereits fünfzehntausend Tote zu beklagen, das übrige England die doppelte Zahl. Erst die Tagesangriffe, dann die Nachtangriffe. Hunger und Angst und Mütter, die ihre Kinder zu Fremden weggaben, das alles gehörte zum alltäglichen Leben. Aber es schlich sich zusehends Verzweiflung in die liebevollen Abschiede. Die kühle Fassade zeigte erste Risse, was die Briten für Tom sympathischer machte. Bislang hatte er sich immer an Harriets Stärke erinnert gefühlt, diese törichte Neigung, sich höflich, aber bestimmt durch nichts aus der Ruhe bringen zu lassen. Der Himmel über ihm war wieder meeresgrau, genauso wie vor einem Jahr, als er in London eingetroffen war, nachdem er sich mit dem größten Teil seiner Kompanie in Kanada eingeschifft hatte. Er erinnerte sich an die Fliegeralarme, das Heulen der Sirenen, die deutschen Bomber, die langsam und unbeirrt angriffen und Dunststreifen zurückließen, die sich ausdehnten und auflösten. Er erinnerte sich, dass sich diese weißen Streifen mit einzelnen Wolken verwoben hatten, erinnerte sich an die aufsteigenden und herabstürzenden Nachtjäger der RAF. Schwache, von Rauch und Abgasen gezeichnete Blaupausen, die über Londons Feuerschein hingen. Die ferne Geometrie war ihm dunkel, zweideutig vorgekommen, tausendfünfhundert Meter über der Erde von waghalsigen Piloten in den Himmel gezeichnet. Das hatte Tom auch zu seiner Einheit gesagt, und sie hatten leicht nervös gelacht und ihn »Einstein« genannt. »Tommy Gun« aber war ihnen lieber. Als Manny aus Montreal nach heftigen Anfällen von Flatulenz »Gasmaske!« brüllte, war das der Gipfel ihres Humors. Sie hatten wie Kinder losgeprustet.
    Es war im November gewesen, als er diesen stahlgrauen Himmel zum letzten Mal gesehen hatte. War es wieder November? Dezember? Er beugte sich auf seinem Sitz vor, um das Datum der Zeitung erkennen zu können, die eine alte Frau las. Montag, 1. Dezember 1941. Also doch. Eine unumstößliche Tatsache: 1. Dezember 1941. Er hörte jemanden »Hyde Park Corner« sagen, dann war er plötzlich auf den Beinen und schwankte mit den Bewegungen des Zuges. Er war im Stadtzentrum. Als er das letzte Mal hier gewesen war, hatte Harriet ihm behutsam die Hand auf den Arm gelegt. Er konnte noch immer ihre Finger spüren. Er ging den Piccadilly hinauf. Er wusste, wo Earl wohnte. Er kannte seine Privatadresse.
    Er ging am Apsley House vorbei. Vorbei an einem stattlichen Herrenhaus, dessen Fenster herausgebrochen waren, das Dach war fort, die Mauern verrußt und eingefallen. Dahinter war der In and Out Club in Mitleidenschaft gezogen, aber er stand noch, die Mauern wurden von einem Holzgerüst gestützt. Tom blieb kurz stehen. Der Zustand kam ihm irgendwie bekannt vor. Dann bog er links in die White Horse Street ein, wieder machte sich die Anspannung zwischen den Schulterblättern bemerkbar, seine bandagierte Hand pochte.
    Shepherd Market bestand aus einem Gewirr schmaler Gassen. Zwischen der Curzon Street und dem Piccadilly gelegen, war es ein enges, heruntergekommenes Labyrinth knarrender alter Häuser und bescheidener Läden. Das Haus war ein hübsches, kleines Gebäude aus rotem Backstein, etwas komfortabler als die der Nachbarn. Zwei Geschosse, schräges Dach, unten kein Laden. Zwei Stummelkamine. Seiner und ihrer. Die Eingangstür hielt einen ordentlichen Sandsackstapel zur Begrüßung bereit. Die Fenster waren mit kreuzweise angebrachtem, weißem Klebeband gegen Explosionen geschützt. Die Verdunkelungsvorhänge waren zurückgezogen, die Gardinen hell und einladend. Ein niedriger Eisenzaun stand um das Haus. Tom öffnete das Gartentor. Einfach anklopfen und eintreten? Er hatte keine Waffe. Ihm blieb nichts anderes übrig, als anzuklopfen oder ein Fenster einzuschlagen oder durch den Garten zu
gehen – er wusste, es gab einen Garten, sehr gepflegt, sehr geliebt. Er hob die linke Hand, und eine Frauenstimme

Weitere Kostenlose Bücher