Alias XX
1
1. Dezember 1941, 23.46 Uhr
Die junge Frau zog den Rock bis über die Oberschenkel und zeigte ihm ihre schlanken Beine in den Baumwollstrümpfen.
»Sie müssen schon entschuldigen, es ist leider keine Seide«, sagte sie zu dem Mann in der glänzend schwarzen Weste. »Die ist heutzutage ja so schrecklich schwer zu bekommen.«
Sie lüpfte den Rock noch ein Stück höher, und während der Mann auf ihre Strumpfhalter starrte, zog sie ihm das schwere Eisenrohr über den Schädel.
Er sackte auf die Knie und gab einen komischen Pfeifton von sich.
Ach, wie aufregend das alles war. Während der heftigen Phase der Luftangriffe war sie nicht in London gewesen, und wie sehr hatte sie die anderen um dieses Schauspiel beneidet. Das Heulen und Krachen der Brandbomben und Flugabwehrgeschütze, die gleißenden Leuchtspurgeschosse und die großen, schwerfälligen Sperrballone, die am Himmel schwebten. Mittlerweile hatte die Luftwaffe ihre Angriffe wieder verstärkt, und es erfüllte sie mit glühender Freude, am grandiosen Lauf der Dinge teilhaben zu können. Es war wie in einem Berliner Glitzercabaret, wenn die hellen Scheinwerfer über die verdunkelte Bühne strichen – nur das hier war noch besser, ging es doch um wahre Tränen, um wahres Blut, um wahre Liebe.
Außerdem eigneten sich die zerbombten Gebiete hervorragend dazu, ehemalige Informanten zu schnappen und zu beseitigen. Der Mann in der glänzenden Weste bewegte sich wie eine komische Krabbe und versuchte über das Geröll davonzukriechen. Sie prüfte, ob die Nachricht, die er ihr gegeben hatte, unversehrt war. Sie wusste, dass zumindest einige im SD, dem Sicherheitsdienst der SS, sie für launisch und flatterhaft hielten und sich über ihren Spitznamen »Schmetterling« lustig machten. Aber sie war nicht flatterhaft. Sie war der Sache treu ergeben, hatte Grips und tat, was getan werden musste.
Sie hob das Eisenrohr, um ihn endgültig zu erledigen, wurde aber durch den Strahl einer Verdunkelungstaschenlampe gestört, der sich über den Schutt tastete. Ein Luftschutzwart rief ihr zu: »Hallo? Miss? Sie sind hier im Gefahrenbereich.«
»Oh, dieser arme Mann!«, klagte sie. »Es hat ihn erwischt, er ist verletzt, oh, bitte, bitte helfen Sie!«
Sie kniete sich nieder, als wollte sie sich um ihn kümmern, und setzte ihm das Knie auf den Nacken.
»Was? Der Gentleman ist verletzt?« Der ältliche Luftschutzwart kam herangeeilt, während er weiter vor sich hin brabbelte.
Sie spürte, wie der knubblige Halswirbel unter ihrem Knie knackte und brach. Sie hörte den Mann pfeifen, ein letzter Laut, der alles andere als ein bühnenreifes Todesröcheln war, dann starb er.
Sie erhob sich und griff sich an den Hals, in ihren weit aufgerissenen Augen glitzerten Tränen.
Der Luftschutzwart geriet nun vollends außer sich, und sie begann zu weinen. Seltsam, dieser Geruch, der über zerbombten Gebäuden lag. Ziegelstaub so dick wie der Londoner Nebel, durchsetzt mit dem Mief von feuchtem Verputz, schwerem Lehm und dem bitteren Hauch des Gases, das aus geborstenen Leitungen zischte. Das Bukett eines dem Erdboden gleichgemachten Hauses. Sie bildete sich sogar ein, dass von dem Mann in der glänzenden Weste eine Art fleischlich-süßer Duft ähnlich einer Narzisse ausgegangen war, als der Tod eintrat.
Schniefend entfernte sie sich vom Luftschutzwart, murmelte, sie müsse jetzt unbedingt gehen, fuhr mit ihrem Fahrrad durch die dunklen Straßen und schlüpfte durch den Garten in Mr. Penthams Haus.
Sie prägte sich die Nachricht ein, die der Mann ihr gegeben hatte, und vernichtete sie. Handelte es sich um schlechte Neuigkeiten? Sie konnte es nicht beurteilen. Ein einziges Mal nur würde sie mit Hamburg Kontakt aufnehmen dürfen: ein erstes und letztes Mal, dann, wenn ihr Einsatz abgeschlossen war. Die Briten hatten ihre Peilsender, und es gab keinen Grund, die Aktion zu gefährden, indem sie voreilig ihr Funkgerät benutzte.
Der Agent, den sie »Buchbinder« nannte, war an Ort und Stelle. Nicht dort, wo ursprünglich beabsichtigt, aber verfügbar. Er würde nie versagen. Ihr Glaube an ihn hatte etwas Religiöses. Sie beide zusammen würden dafür sorgen, dass das Vaterland siegte. Es sollte nicht mehr lange dauern, höchstens noch zehn Tage.
Es war der aufregendste Einsatz ihrer Karriere, und sie fühlte sich unbeschreiblich wohl in ihrer Haut – wäre nicht hin und wieder der schwache Geruch des toten Mr. Pentham gewesen, der, wie sie fürchtete, langsam in Verwesung
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