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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Allerhand Sozialistisches.

Nartum
Do 4. Mai 1989, Himmelfahrt
    ND: Große Perspektiven für die Zusammenarbeit DDR-ČSSR
     
    Mit Hildegard gestern lange im Niedersachsenhof gesessen und unterhalten. Abends gegen 23 Uhr trafen wir uns in der Halle, sie wollte einen Wein mit mir probieren. Ich war ziemlich kaputt und ließ den TV einmal durchspielen.
    Hildegard:«Worüber haben sich früher wohl die Ehepaare unterhalten, wenn sie zusammensaßen?»
    Ich arbeitete nach zwei Tagen der Schlaffheit wieder mal wie ein
Verrückter. Schade, daß es keine Möglichkeit gibt, die«Echo»-Texte in Filme zu überführen, Fotos sind nicht ausreichend. Spielfilme der Nazi-Zeit, Paracelsus oder so was, und dann geht man wieder in den Text hinein. Das Unbewußte reproduzieren. Realitäten genügen nicht. Durch Dialogisierung? M/B: Jonathan: Schwer atmend vollbrachte er das, was ihm ein Vergnügen zu sein hatte. - Er stellt sich vor, man hätte seine V-Kamera gestohlen und sähe sich nun den Film an, den er über seine Reise gespult …
    Dorfroman: Goldenes Frühlingswetter. Wir sitzen im Garten und beobachten die Hühner. Frau Meyer hat uns einen Sandkuchen gebacken. Das ist so ungefähr das Delikateste, was man sich denken kann; das Palmin wird heißflüssig in den Teig gegossen. Ich denke an Charleys Kuchen in Bautzen, den er von seiner Mutter geschickt kriegte, das Papier war durchgefettet. Er schenkte mir ohne zu zögern die Hälfte! - Wieso gibt es einen solchen Kuchen jetzt nicht mehr? Wieso ist man in Freiheit nicht ebenso freigebig wie damals hinter den gelben Mauern?
    Nächste Woche werden uns auch die Schafe zusehen beim Kaffeetrinken.
    Nach einer halben Stunde der Ruhe und Federpflege setzen sich die Hühner jetzt wieder in Marsch. Der neue Hahn ist schon ganz zutraulich. Wie gut, daß wir nicht so einen Wüterich bekommen haben. Über Hähne laufen ja wüste Geschichten um. Peter Janssen hat seinen Hahn mal 15 Meter weit weg geschleudert, weil der ihn attackierte. Knut Hamsun erschlug eine Henne mit dem Spazierstock, weil sie ihn beim Arbeiten störte. Über unserm«Wald»schwirren Millionen schwarzer Insekten. Das sind die Herrschaften, die wir aus Naturliebe nicht ausgeräuchert haben. Die Bäume sind wahrscheinlich hin. 3000 Bäume à 20 Mark = 60 000 Mark für zehn Meisen, die überleben, weil wir kein Gift gesprüht haben. Ein stattlicher Preis. Teure Meisen. Irgendwie idiotisch.
    Warum sollte ich mir kein Palmenhaus bauen, was spricht dagegen? Den Rostocker Hof mit einer Metall-Glas-Konstruktion überdachen und darin Kanarienvögel fliegen lassen. Die elektrische
Orgel. Und die Gewächse vollautomatisch wässern. Ich stelle mir vor, wie ich an der Orgel sitze und die Kanarienvögel kommen und setzen sich auf meine Schulter, und dann beginnt das Wasser sich geheimnisvoll über die Pflanzen zu ergießen … Gestern kam ein Herr Alsdorf mit seiner Frau, er hat mir die Beschreibung seiner Zeit im Strafbataillon dagelassen. Hab’s am Nachmittag gleich in den Computer eingegeben, soweit es in die Zeit paßte. Er fragte, ob er für die Arbeit, die er dabei gehabt hat, nicht ein Honorar bekommt? Und seine Frau nickte dazu. Nein, damit fangen wir gar nicht erst an. Wenn ich jedem Einsender ein Honorar zahlen sollte, wäre ich bald pleite. Geld gestiftet hat mir noch niemand. Alle finden es großartig, was ich da mache, aber das ist es dann auch. Grade man eben, daß wir den Archivraum als Arbeitszimmer von der Steuer absetzen können. Der Verlag hat keine Ahnung davon, was auf ihn zukommt. Hildegard hackt mir meine Allee von Unkraut frei. Letztes Jahr konnte ich vor Unkraut nicht mehr laufen. Nun tut sie es, damit ich mir wieder«Bewegung mache», aus Liebe also, damit ich länger lebe. Wenn ich meine Runden drehe, denke ich an die KZler in Buchenwald mit ihrer Walze. Andere mußten Tag für Tag’zig Kilometer marschieren, um neue Schuhe auszuprobieren: Ob die Sohlen das aushalten, das Marschieren.
    Um die Laube herum hat man leider alle Büsche abgehackt. Nun steht sie kahl in der Gegend, und alle Leute können von der Straße aus zugucken, wie mir über dem Notizbuch nichts einfällt. - Aber dort sitze ich sowieso nie. Die Laube ist nur zum Angucken da. Wenn wir auf der Terrasse sitzen, sehen wir ambivalentisch, daß man da drüben auch sitzen könnte. Und daß es von da drüben sicher schön aussähe, wenn wir hier sitzen. Und umgekehrt. Heute rief das Pferdemädchen Michaela an, die mit mir an einem Tag Geburtstag hat.

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