Alle auf Anfang - Roman

Titel: Alle auf Anfang - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Zaplin

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machen.
    Kommen Sie bitte morgen zu mir in die Sprechstunde, dann gebe ich Ihnen den genauen Bericht.
    Und jetzt gehen Sie zu Ihrer Frau.

3
VOR DEM MORGEN
Jasper klopft an Anselms Scheibe
    »Können Sie mich mitnehmen?«, fragt er.
    Anselm sieht zwei helle Kinderaugen in einem blassen Gesicht, hört sich fragen: »Wie alt bist du denn?«, hört einen Chor verhasster alter Stimmen dieselbe Frage stellen, dreißig, vierzig Jahre früher. Ehe der Junge antworten kann, stößt Anselm die Beifahrertür auf.
    »Steig ein.«
    Er mustert den Eingestiegenen, seine teuren Skaterschuhe, die frisch gewaschene Jeans und das Markenpolo. Wie ein Abenteurer sieht er nicht aus, denkt Anselm und entdeckt erst jetzt in der Hand des Jungen die weiße Clownsmaske.
    »Wo soll’s denn hingehen?«, fragt er betont munter. »Auf einen Maskenball? Zu den Capulets gar?«
    Der Junge sieht ihn schräg von unten an. Shakespeare ist ihm sichtlich unbekannt.
    »Nach München«, sagt er beinahe schüchtern.
    Anselm überlegt. Eigentlich die völlig falsche Richtung. Eigentlich wäre der Weg zu Claudia jetzt frei. Gas geben, durchfahren bis zu ihrer Haustür. Und dann … Eigentlich ist es die völlig falsche Zeit. It’s just that the time is wrong.
    »München passt«, hört Anselm sich sagen.
    Er lässt den Motor an. Juliet!
    »Ich bin Anselm.«
    Der Junge schweigt. Der hat doch was ausgefressen, denkt Anselm. Zwingt Anselm, sich zu denken. I love you like the stars above … Bestimmt will er abhauen. Auf eine sentimentale Weise rührt ihn das. Sechzehn, beantwortet er im Stillen seine erste Frage, höchstens siebzehn. Als er siebzehn war, lag ihm nichts ferner als das Theater. Musiker wollte er werden, Pig Arse hieß seine Band, ihre Songs hatten Wortspiele wie dieses zum Titel. Gerade, als er im Kopf seinen nächsten Satz formuliert, der den unvermeidlichen Anfang Als ich in deinem Alter war haben würde und dann in seinen Musikertraum münden sollte, kündigt ein Hinweisschild die nächste Ausfahrt an. Anselm setzt den Blinker.
    Nein, er ist nicht feige. Ja, er wäre ihr hinterhergefahren. Wenn diese Autobahnsperre nicht gewesen wäre. Ja, er ist eben erwachsen, vernünftig, endlich, und morgen, morgen wird er Blumen kaufen und dann noch einmal losfahren. He, it’s Romeo …
    Er lässt den Wagen langsam über die Brücke rollen und biegt dann wieder auf die Autobahn ein, diesmal in der Gegenrichtung.
    »München also«, sagt er, »magst du Musik?«
    Der Junge nickt.
    »Welche Richtung?«, lässt Anselm nicht locker. Er wirft einen Blick auf seinen Mitfahrer und fängt sich ein spöttisches Lächeln ein.
    »Das wird Ihnen nicht viel sagen«, erklärt der Junge höflicher, als sein Lächeln vermuten ließ. Dabei beginnen seine Hände, die weiße Maske zu kneten. Obwohl es ihn drängt, unterdrückt Anselm den Wunsch, noch einmal nach dieser Maske zu fragen.
    »Sag ruhig du zu mir«, fordert er stattdessen. So einen Jungen könnte ich zum Sohn haben, denkt er und sieht den Kindersitz in Claudias Auto vor sich, so wie er ihn vom Gehweg aus gesehen hat, durch die Rücksitzscheibe, drei Stunden zuvor. Hätte er mit Claudia Kinder gehabt?
    »Was machen Sie?«, fragt der Junge und legt die Maske auf die Knie.
    »Beruflich, meinst du?«
    »Yes.«
    »Ich bin Schauspieler.«
    Anselm kennt die Wirkung dieses Satzes, noch nie ist sie ausgeblieben, auch diesmal nicht.
    »Cool«, sagt der Junge bewundernd und betrachtet ihn beinahe ehrfurchtsvoll.
    »Welche Filme?«
    »Theater«, entgegnet Anselm knapp.
    »Okay.«
    Der Hauch von Ehrfurcht verschwindet wieder aus dem Blick des Jungen.
    »Theater ist auch cool«, versucht es Anselm und merkt sofort, wie anbiedernd ihm dieses Wort über die Zunge kommt. Er sieht auf die vollkommen leere Fahrbahn vor ihnen, auf die wenigen Meter, die das Scheinwerferlicht ausleuchtet, und in die Finsternis dahinter.
    »Du hast sie alle in der Hand«, sagt er und schaltet das Fernlicht an, »du senkst deine Stimme und zögerst ein bisschen mitten im Satz, und schon saugen sich ihre Blicke an dir fest, als könnten sie so den Rest des Satzes aus dir herausquetschen. Und du lässt sie zappeln, bis zum letztmöglichen Augenblick, bevor die Ersten anfangen zu husten. Dann gibst du es ihnen. Zack zack zack. Wie mit der Peitsche.«
    »Cool«, sagt der Junge wieder. Verdammt, warum klingt das bei dem so authentisch und bei ihm, wie es nur bei einem alten Typen wie ihm klingen kann, so falsch. Er nimmt sich vor, später mal an den