Alle auf Anfang - Roman
einer Antwort setzt der Junge das Ding auf und wendet sich ihm zu. Anselm sieht in ein Fratzenlächeln, und obwohl er den Wein und den Espresso und diese ganze vollkommen wahnsinnige Nacht in sich hochsteigen fühlt, obwohl er einen aufgerissenen Wagen vor dem Brückenpfeiler und Blaulicht und eine gekrümmt auf dem Asphalt liegende leblose Frau sieht und sich, ohne dass seine Vernunft dies verhindern kann, Claudias Gesicht darüberschiebt – obwohl all dies ihn von innen her aufreißt, messerscharf, dass der Schmerz ihn fast betäubt, bricht er in Gelächter aus. Anschwellendes irres Lachen. Nach einer Weile mischt sich vom Beifahrersitz ein dünnes Lachen hinein. Es bricht ab, als der Junge mit von der Maske verzerrter Stimme sagt: »Das ist nicht lustig.«
»Nein«, sagt Anselm und beginnt von Neuem zu lachen. Er fädelt sich auf den Mittleren Ring zwischen den beiden einzigen anderen Autos ein und bemerkt mit einem Blick auf den Tacho, dass beide viel zu schnell fahren. Natürlich war es nicht Claudia, das ist doch immer so, wenn von Unfällen oder Katastrophen die Rede ist, dass man die, die einem nahe stehen, unter den Opfern vermutet, und wann trifft das schon zu. Sein Magen erzählt etwas anderes. Ohne den Blinker zu setzen, schert Anselm aus und rast an dem vor ihm Fahrenden vorbei.
»Kann ich am Oly aussteigen?«, bittet die verzerrte Stimme. Anselm schweigt. Söhnchen, lass uns spielen. Nach meinen Regeln. Das ist lustig. Er beschleunigt weiter.
»Was machst du?«, quengelt die Stimme. »Du bist verrückt. Sie sind ja verrückt.«
»So?«
Ein kurzer Seitenblick auf die Maske vor dem Gesicht des Jungen genügt. Er schiebt das Clownsgesicht hoch auf die Stirn und versucht, etwas aus den Hosentaschen zu ziehen. Als er sein Handy erwischt hat und gerade beginnen will, in die Tasten zu tippen, entreißt Anselm es ihm, lässt die Scheibe der Fahrertür hinuntergleiten und wirft es aus dem Auto.
»Hey!«, kräht der Junge. Panik schwingt jetzt in seiner Stimme. Sie rasen durch den Petueltunnel. Der Junge dreht sich um, blickt durch die Heckscheibe hinaus. Ins Dunkel, wie Anselm im Rückspiegel sieht.
»Lassen Sie mich raus!«, brüllt der Junge.
»Klappe halten«, sagt Anselm sehr ruhig.
Wenig später schon sind sie wieder auf der Autobahn, diesmal in Richtung Norden.
Bela
Weißt du, ob deine Frau dir treu ist?
Hat der andere gefragt. Der nicht weiß, wie grausam die Frage ist. Der heute Nacht noch im Bett liegen wird neben der Hollywoodfrau. Heute Nacht noch. Wo die Autobahnsperre jetzt aufgehoben ist.
»Mach mal zwei Latte, Bela!«, ruft der Kollege. Schwingt die Serviette wie eine Fahne. Und Bela nickt. Macht zwei Latte.
Milch und Kaffee und Stassija, seine Frau. Milch und Kaffee sind ihre Augen. Sind die Augen der Kinder. Sind sie ihm geblieben. Seit Stassija ihre Freiheit genommen hat. War der Himmel getaucht in Kirschenrot an jenem Morgen, als Stassija ging. Was ist Freiheit?
Hat er oft gestritten mit ihr über Freiheit. Freiheit, Stassija, hat er gesagt, Freiheit ist: nach Deutschland gehen und viel Geld verdienen. Aber Stassija hat nur gelacht. Wildes Lachen voll Hunger. Kein Brot konnte das stillen, kein Wein. War er damals schon Gärtner bei Frau Doktor Lund. Hat gearbeitet vier Wochen lang und dann das Geld nach Hause gebracht und ist wieder nach Deutschland. Wieder Geld verdienen. Vier Wochen lang. Zu Hause gab es kein Geld zu verdienen. Das ist Freiheit, Stassija, hat er gesagt, alle vier Wochen, und hat ihr das Geld auf den Küchentisch gelegt, und sie hat gelacht. Wild, hungrig. Sprangen die Kinder ihn an, wenn er kam, und die Kleinen hingen an seinem Arm. Bis er wieder fuhr. Und wieder nach Hause kam. Und wieder fuhr. Zwei Jahre lang. Kirschenrot war der Morgen von Stassijas Freiheit. Hat er ihr nachgesehen vom Küchenfenster aus und dann in Milch und Kaffee in acht Kinderaugen. Hat er die Kinder zu seiner Mutter gebracht. Was willst du, hat seine Mutter gesagt, habe ich dich nicht gewarnt? Die Zigeunerin, hat seine Mutter gesagt, da ist er fort, nach Deutschland. Hat er seine Freiheit genommen, in den Armen von Frau Doktor Lund, so hungrig, so traurig, und sie war so bereit. Erst. Dann hat sie ihn aus dem Haus geworfen.
»Espresso, Bela, doppelten.«
Seitdem ist er hier. In der Autobahnraststätte, wo der Nachbar arbeitet. Fahren sie sonst immer mit dem Auto her, nur heute nicht. Nur heute hat er den Weg über die Brücke genommen. Hat er Frau Doktor Lund gesehen. Zum ersten Mal
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