Alle auf Anfang - Roman
möglichen Aussprachen dieses Wortes zu arbeiten. Und im gleichen Moment weiß er schon, dass er das nicht tun wird. Wozu auch? Für die kleinen Chargen, für die er besetzt wird? Überflüssig.
Der Junge neben ihm hustet kurz.
»Ich spiele, also, ich meine, ich mache da auch bei etwas mit.«
Wieder beginnt er, die Maske zu kneten.
»Im Internet, verstehen Sie?«
»Du«, fordert Anselm ihn nachdrücklich auf.
»Ghost Family«, wirft ihm der Junge ein Stichwort hin, und Anselm sieht eine Vorabendserie, Daily Soap, denkt er und dass er so was auch nehmen würde, Hauptsache: Spielen, und besser bezahlt wäre es ohnehin.
»Das funktioniert wie World of Warcraft, nur viel intelligenter«, sagt der Junge, und wieder nickt Anselm, ohne zu verstehen. Schon lange nicht mehr kam er sich so alt vor. Trotzdem fühlt er sich wohl.
»Hat die Maske da was mit deiner Rolle in dieser Serie zu tun?«, fragt er. Der Junge lacht, lacht wie ein Kind über einen Versprecher.
»Keine Serie. Ein Spiel. Aber die Maske hat trotzdem was damit zu tun.«
Er sucht nach Worten, und Anselm wartet ab, verwirrt und neugierig zugleich.
»Es geht darum, den Ghost zu schützen. Der Ghost, das ist so was wie – wie der Mittelpunkt der Familie, verstehen Sie? Also, er ist ein Teil von jedem, und jeder hat die Aufgabe, alle Teile irgendwann zusammenzubringen, nur dann erhält der Ghost seinen Wert. Und das mit dem Zusammenbringen, das funktioniert über Aktionen. Jede Teilnahme an einer Aktion bringt Punkte, und die erhöhen den Wert der Ghost Option. Und jetzt findet eben gerade die Aktion mit der Maske statt. Die ist was Besonderes und bringt darum auch besonders viel Punkte, weil sie die erste in der Echtwelt ist.«
Es entsteht eine kleine Pause, in der Anselm versucht, das eben Gehörte zu verstehen. Der Junge sieht ihn abwartend an.
»Und diese Aktion« – Anselm spricht sehr langsam, als setze er die Worte aus einem Baukasten zusammen –, »dieses Punktesammeln findet in München statt?«
»Korrekt.«
Der Junge strahlt. Wahrscheinlich hören seine Eltern ihm nicht mehr zu bei diesen Spinnereien, denkt Anselm.
»Wie bist du denn darauf gekommen?«, fragt er.
»Worauf?«
»Auf dieses Spiel. Auf die … die Ghost Family.«
»Bisschen rumgesurft, auf ein paar Seiten gelandet, Links verfolgt. Und so weiter.« Er betrachtet die Maske. Er sieht nicht aus wie ein Romeo, denkt Anselm, eher wie ein Hamlet oder vielleicht sogar wie ein Woyzeck.
»Es hat mich einfach interessiert«, fügt der Junge noch an.
Woyzeck, denkt Anselm, der Mond ist wie ein blutig Eisen.
»Aber es geht nicht darum«, wieder setzt er die Worte stückweise, »es geht nicht um Zerstörung oder darum, irgendwelche Gegner auszuschalten, oder?«
»Eben nicht«, der Junge lacht auf, »im Gegenteil. Es geht darum, der Welt ihre Seele zurückzugeben. Ein neuer Aufbau.«
Beinahe pathetisch hatte das geklungen. Franz Moor, denkt Anselm. Mit den Fingerspitzen streicht der Junge über die Maske. Die Scheinwerfer saugen ein Ausfahrtsschild heran. München–Fürstenried. Gerade will Anselm den Jungen fragen, wo genau er in der Stadt aussteigen will, da beginnt der wieder zu sprechen. So, als spräche aus ihm ein anderer. Einer, der flüstert: »Und dann ist doch was passiert. Ausgeschaltet. Zerstört. Weil ich die Maske aufhatte. Eben. Ist das Auto gegen den Brückenpfeiler …«
Der Scheinwerferkegel auf der Fahrbahn. Die Schilder mit der Geschwindigkeitsbegrenzung.
»Im Internet?«, fragt Anselm.
»In echt«, sagt der Junge.
Die Leitplanke so nah. Kein anderes Auto weit und breit. Wie aus weiter Ferne die Worte des Jungen. »In der Nähe der Raststätte … heute Nacht … so ein dunkelblauer Kombi … eine Frau herausgeschleudert, die lag auf der Fahrbahn … sonst keiner im Auto gewesen, nur sie.«
Die Weingläser auf der blanken Tischplatte und wie sie gesagt hat: »Ich trinke doch nichts, eigentlich«. Der Kindersitz auf der Rückbank des dunkelblauen Kombis. Anselms Magen krampft sich zusammen. Jedes dritte Auto ist ein dunkelblauer Kombi, denkt er und hört die Nachricht aus dem Verkehrsfunk. A95 Richtung Garmisch–Partenkirchen zwischen Kreuz Starnberg und Seeshaupt nach einem Unfall gesperrt. Bitte folgen Sie den Umleitungshinweisen. Blaulicht und Martinshorn von hinten. Die heranrasenden, vorüberrasenden Rettungswagen. Das ist wohl etwas Größeres, hat er gedacht. Das war was anderes, denkt er jetzt.
»Was soll das mit der Maske?«, fragt er.
Anstelle
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