Alle auf Anfang - Roman
seit der Freiheit.
Die Espressomaschine zischt und dampft. Zwei Tassen gefüllt, zwei Tassen auf den Tresen gestellt. Darunter liegt das Telefonbuch. Soll er sie anrufen?
»Bela, jetzt pass doch mal besser auf!«
»Entschuldigung«, murmelt er. Holt eine Tasse aus dem Regal. Macht Cappuccino. Lärm überall. Eine Reisegruppe. Die Männer schon im Gastraum, die Frauen wohl noch auf dem Klo. Zieht er den Kopf ein, macht Cappuccino, meidet den Blick des Kollegen. Bis der Ansturm vorüber ist.
Dann: nimmt er einen Zettel und einen Stift. Schlägt er im Telefonbuch nach unter L. Findet die bekannte Straße, die bekannte Nummer. Vergleicht alles mit den Bildern in seinem Kopf. Das stimmt überein. Alles noch, wie es war. Blick auf die Uhr: in einer Stunde ist Feierabend.
Alma ruft in der Klinik an
Man bedaure, ihr keine Auskunft geben zu können, aber sie sei keine Angehörige. Nein, der Chefarzt sei nicht zu sprechen. Sie sei Ärztin? In diesem Fall würde sie doch erst recht verstehen müssen, dass es klare Regeln gäbe. Also gut, ja: die Patientin sei außer Lebensgefahr.
Außer Lebensgefahr. Den Telefonhörer wie ein Skalpell noch immer in der Hand, steht Alma vor der Terrassentür und sieht hinaus in den dunklen Garten. Mit den Augen tastet sie die Büsche hinten am Zaun ab. Vielleicht hockt er dort, wartet auf eine günstige Gelegenheit, ins Haus zu schlüpfen. Ob ihm kalt ist? Sie zittert. Immer ist ihr so wohlig warm geworden, wenn sie ihr Baby angesehen hat, wie es im Lammfellsack lag, im Kinderwagen. Jasper war ein süßes Baby. Er sah genauso aus, wie sie sich ihr Baby immer erträumt hat. Er sah aus, als ob alles mit ihm so werden könnte, wie sie es sich vorgestellt hat.
Außer Lebensgefahr. Dann könnte er doch zurückkommen. Sie starrt auf den Hörer in ihrer Hand. Noch ehe er sich durchsetzt, verbietet sie sich den Gedanken an Jaspers Vater. Sie hebt den Zeigefinger der anderen Hand, lässt ihn über der Tastatur schweben. Dann wählt sie Jaspers Handynummer. Hält den Hörer ans Ohr. Wartet. Endlos. Er meldet sich nicht.
Sie wollte das Kind
Er hat sie beschimpft. Sie hätte ihn hereingelegt. Sie brauchte ihn nicht. Er wollte das schriftlich. Sie nahm ihren Lupenblick zu Hilfe, sezierte ihn in Einzelheiten. Die schönen Nächte. Die Feste. Der Schwangerschaftstest. Das hässliche Ende.
Er verlangte eine Erklärung. Sie gab sie ihm. Schriftlich. Anschließend entfernte sie ihn aus ihrer Nähe. Und schrieb die Biografie ihres Kindes. Die Versorgung war ausreichend. Es könnte bis zum Chefarzt reichen. Zum Gesundheitsminister. Sie war glücklich.
In Anselms Auto
»Lass mich sofort raus hier, du Arsch, das ist Freiheitsberaubung!«
»Na, sieh mal einer an. Welch großes Wort. Du hast doch keinen blassen Schimmer, was das ist: Freiheit.«
»Ach, aber du, ja? Nachts mit Vollgas über die Autobahn brettern, ja?«
»Nachts auf der Autobahn allein fahrende Frauen schockieren und sie gegen Betonpfeiler jagen, ja?«
»Halt die Klappe.«
»Jetzt wird’s wohl ungemütlich.«
»Hallo? Lass mich sofort aussteigen, ja?«
Sie brüllen sich an, fallen einander ins Wort, während die Tachonadel weiter steigt. Als Jasper einen Blick auf den Geschwindigkeitsanzeiger wirft, versagt ihm zunächst die Stimme. Dann presst er fast tonlos heraus: »Willst du uns beide umbringen?«
Anstelle einer Antwort wechselt Anselm die Fahrbahn, schwenkt wieder zurück, bleibt so im Slalom. Jasper krallt sich in seinem Sitz fest. Die Maske ist ihm von den Knien gerutscht. »Du tust so, als wärst du Gott«, flüstert er.
»Und du?«
Anselm hält das Lenkrad fest umklammert, als er den Jungen neben sich ins Auge fasst. »Was tust du anderes?«
Urs sitzt an Claudias Bett
Reden Sie mit ihr, hat die Schwester gesagt, sie hört Sie, auch wenn es nicht so aussieht. Er schaut auf die Schläuche, die in Claudias Nase hineinführen, die Elektroden an ihren Schläfen, die Wundpflaster auf den Wangen, auf der Stirn, den Monitor links neben dem Kopfende des Bettes. Er sieht die Kanülen an ihren Handrücken, die dünne Decke über ihrem verwundeten Körper, den dicken Schlauch, der unter der Decke herauskommt und bis zu einem aufgehängten Beutel führt, in dem sich Wundflüssigkeit sammelt. Was soll er denn sagen?
Ihre Augen sind geschlossen. Wenn er sich die Elektroden, die Schläuche und Kabel wegdenkt, sieht es so aus, als ob sie schliefe. Aber sonst redet er auch nicht mit ihr, wenn sie schläft. Wenn sie neben ihm im Bett liegt
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