Alle auf Anfang - Roman
sonst nicht so, dass es kitzelte unter der Bauchdecke, wenn sie in die Stadt gefahren war, um mit Constanze über Manuskripte zu sprechen. Und nur, weil sie diesmal woanders geparkt und dann auf dem Plakat den Namen gelesen hatte, war das alles wieder aufgewacht, die Lust zu hüpfen, das Gefühl, getragen zu werden. Und dieser federnde Gang.
Anselm Assmann. Wie lange war das her? Zwanzig Jahre. Zweiundzwanzig, um genau zu sein. Was hatte sie geschrien vor Glück, als sie die Hospitantenstelle bekam, hatte gleich im Atlas nachgesehen, wo Bielefeld lag, Münchner Kommilitonen aus der theaterwissenschaftlichen Fakultät besorgten ihr für die Zeit der Hospitanz ein Zimmer in einer WG, die Regieassistentin zeigte ihr das Theater und warnte sie vor dem neuen jungen Schauspieler, der schon in einer Spielzeit ein halbes Dutzend Kolleginnen unglücklich gemacht hatte. Claudia hatte das gleich gereizt. Scheinwerfer, Kostümfundus, der Geruch von kaschiertem Stoff und Trockennebel auf der Hinterbühne – das alles hatte sie schon als Schülerin fasziniert. Damals zählte sie zur Statisterie der fränkischen Kleinstadtbühne, in deren Schatten sie aufgewachsen war. Drei Dinge braucht der Mensch, hatten Freunde ihr ins Poesiealbum geschrieben: Theater, Theater, Theater.
Ihr Blick fiel auf ihre Schuhe, ausgeblichene Leinenslipper. Das muss in einem anderen Leben gewesen sein. Die Füße in den Schuhen, die sich eben noch so leicht angefühlt hatten, trugen sie, ohne sie zu fragen, zwischen die Tische des Straßencafés, in das sie hineingeraten war, und steuerten einen Bistrotisch am Ende des Areals an, nahe dem angrenzenden Spielplatz. Das wäre praktisch gewesen, wenn sie die Kleine dabeigehabt hätte, von hier aus hätte sie das Kind gut im Auge gehabt. Sie besetzte die beiden Stühle, den einen mit ihrer Tasche und den anderen mit ihrem Körper, der vor zweiundzwanzig Jahren von jemandem attraktiv genannt worden war. Urs besaß dieses Wort nicht in seinem Wortschatz.
Sie bestellte einen Milchkaffee und nahm sich vor heimzufahren, wenn die Tasse leer sein würde. Urs hatte es nicht verdient, dass sie hier saß und so über ihn dachte. Als sie ihn traf, hatte sie längst mit diesem anderen Leben abgeschlossen. Theater, hatte sie ihm erklärt, sei etwas für starke Nerven, und dass sie von den unregelmäßigen Arbeitszeiten und der Ungewissheit bezüglich der Vertragsverlängerungen nur Magengeschwüre bekomme. Seitdem übersetzte sie.
Der Milchkaffee kam. Claudia rührte ihn nicht an. Sie fixierte die Litfaßsäule, die an der Straßenecke gegenüber stand. Zwischen ihr und der Litfaßsäule lagen bestimmt zwanzig Meter, und dennoch erkannte sie das Spielplanplakat des Staatsschauspiels sofort. Auf diesem Plakat wusste sie unter dem Datum des heutigen Tages in der Besetzungsliste seinen Namen. Anselm Assmann. Sie wusste noch mehr: Sie würde die Vorstellung sehen. Erschrocken stürzte sie den Milchkaffee hinunter, bezahlte und ging. Besorgungen machen. Anstandshalber kaufte sie für Urs einen Dreierpack Socken im Sonderangebot. Länger aber hielt sie es nicht aus im Kaufhaus und lief hinaus.
Erstaunt darüber, gar nicht atemlos zu sein, erreichte sie den Englischen Garten. Wie ein freundlich blickendes Auge lag der Kleinhesseloher See unter dem tiefblauen Sommerhimmel. Der Biergarten am gegenüberliegenden Ufer schien noch immer sehr beliebt. Seit Jahren hatten sie vorgehabt, zu dritt den Sonntag hier zu verbringen, Urs, sie und die Kleine. Claudia überquerte den Uferweg, zog Schuhe und Strümpfe aus und tauchte einen Fuß ins Wasser.
Irgendwann war es Zeit. Sie nahm das Handy aus der Tasche und drückte die eingespeicherte Nummer.
»Hallo? Ich bin’s. Es wird später, ich gehe noch ins Theater. Gib der Kleinen einen Kuss von mir und sag ihr, ich bin zurück, wenn sie schläft. Servus.«
Das Klicken, mit dem das Gespräch beendet wurde, hallte in ihrem Kopf nach. Das hörte sich an wie eine Aufforderung. Bleib doch einfach weg. Keine Besorgungen mehr.
Der Chefarzt spricht zu Urs
Sie können jetzt zu Ihrer Frau.
Erschrecken Sie nicht. Sie muss vorerst noch beatmet werden. Aber sie ist außer Lebensgefahr.
Leider war es trotz aller Bemühungen schließlich doch nicht ganz möglich, ihre Beine zu retten. Ihr Gehvermögen. Es sieht nach Rollstuhl aus.
Wenn sich ihr Zustand stabilisiert hat, beginnen wir mit den Reha–Maßnahmen. Manchmal tut sich da doch noch was. Aber ich will Ihnen keine allzu großen Hoffnungen
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