Alle auf Anfang - Roman
war sein Dorf, als er ankam. War er der Letzte, der ausstieg. Musste er noch laufen, eine Stunde lang. Gibt es immer noch keine Straße aus Asphalt bis hinüber in sein Dorf. Staubig und hart der Weg, der im Frühjahr schwimmt. In dem man versinkt im Herbst. Wie geduckte Tiere die Häuser. Haben sie Angst? Oder lauern sie? Seine Mutter noch wach, saß in der Sommerküche. Was für ein schönes Wort für so ein Loch. Gestampfter Boden aus Lehm und ein Kohleöfchen und auf dem Schemel die Mutter in Schwarz. Hat zwei Gläser geholt und Schnaps mit ihm getrunken ganz ohne ein Wort. Bis er nach seinem Ältesten gefragt hat. Begann ein Schimpfen bis zum Sonnenaufgang.
Im Nachbardorf hat er den Jungen gefunden. In einem verlassenen Stall zwischen Flaschen und Scherben. Ihn und ein paar andere. Komasaufen, sagt man in Deutschland, kennt man das dort auch. Ein großes Talent, hatte die Lehrerin gesagt, vor einem Jahr. Bei seinem letzten Besuch. Ein weiter Weg durch Dreck und Schlamm in die Schule. Internat, hatte die Lehrerin gesagt. Und dass er sparen soll. Hat er den Jungen auf die Schulter genommen und zurückgetragen. In die Sommerküche der Mutter. Im Wäscheschrank hat sie das Formular aufgehoben. Immer wieder gefalzter, auseinandergenommener und wieder gefalzter Anmeldebogen. »Hast du das Geld fürs Internat?«, hat die Mutter gefragt. »Der Pfarrer hat gesagt …«
»Ja, was sagt er? Hat er auch kein Geld. Der Pfarrer!« Und wieder Schimpfen. Einen Tag. Eine Nacht.
Hat er die Kleinen besucht, die bei der Tante wohnen. Hat ihnen die Schokolade gebracht. »Und Stassija?«, hat er die Schwester seiner Frau gefragt. Aber die wollte nichts wissen. Hat ihm das Geld geliehen für den Bus nach Deutschland. Muss er es wieder versuchen. Bis das Geld reicht fürs Internat. Muss er wieder und wieder kommen.
Vor dem Fenster ist oben ein Querstreifen aufgetaucht. Wird heller, breiter. Als der Tag da ist, hält der Bus am Münchner Hauptbahnhof. Entlässt ihn hinaus auf die Straße. Bela zieht seinen Koffer aus dem Gepäckfach zwischen den Busrädern und geht.
Am Frühstückstisch in der Reihenhausküche
Sieben Uhr zehn. Urs zieht den Teebeutel aus der Tasse. Klappt das Pausenbrot für die Kleine zusammen und legt es in die Dose. Füllt Müsli in zwei Schüsseln und ruft »Frühstück!« in Richtung Bad. Kurz darauf erscheint Fee und setzt sich auf ihren Platz.
»Hast du den Turnbeutel eingepackt?«, fragt Urs und legt ihr die Brotzeitdose neben den Teller. Das Kind nickt. Beginnt zu essen. Sieben Uhr fünfzehn. Alles hat sich eingespielt. In einer Viertelstunde wird Fee das Haus verlassen. Dann bleiben ihm dreißig Minuten, um Claudia beim Anziehen zu helfen und mit ihr eine Tasse Kaffee zu trinken. Die Kaffeemaschine läuft bereits. Wenn er gleich um acht das Haus verlässt, wird er noch an der Tür auf den Pflegedienst treffen. Alles hat sich eingespielt. Die Zahnräder greifen perfekt ineinander. Wenn er in seinen Bauch horcht, hört er sie stampfen. Spürt er, wie sie ihn zerstampfen. Aushöhlen. Wenn sie nur nicht stehen bleiben.
Sieben Uhr zwanzig. Alles hat seine Zeit. Fee steht auf und packt zusammen. Urs stellt die Kaffeetassen auf den Tisch. »Ich wecke die Mama«, ruft die Kleine und er schiebt den Stuhl an die Seite, um Platz für den Rollstuhl zu schaffen. Alles hat sich verändert. Ein Schulkind, eine Pflegebedürftige. Alles musste neu geplant werden. Sieben Uhr fünfundzwanzig. »Schuhe anziehen!«, ruft er hinüber ins Wohnzimmer, wo eine Wand eingezogen und dadurch ein ebenerdiges Schlafzimmer geschaffen wurde. Fee kommt zurück, er hilft ihr, den Schulranzen aufzusetzen, gibt ihr einen Kuss und schiebt sie zur Tür hinaus. Anschließend geht er zu seiner Frau. Vor dem neuen Schlafzimmer, ihrem Schlafzimmer, bleibt er kurz stehen, lauscht auf die Zahnräder. Sie stampfen und fauchen.
Claudia sitzt bereits fertig angezogen im Rollstuhl. Er gibt ihr einen Kuss und schiebt sie in die Küche.
»Bist du nicht überrascht, dass ich schon angezogen bin?«, fragt sie. Er lächelt. »Ich kenne dich doch«, sagt er. Sie sieht ihn zweifelnd an. Er holt die Kaffeekanne aus der Maschine und gießt zwei Tassen voll.
»Die Kleine kommt heute nach der vierten Stunde heim«, sagt er, »da ist der Pflegedienst schon weg. Euer Mittagessen ist im Kühlschrank, einfach …«
»… in die Mikrowelle schieben, zwei Minuten lang«, fällt sie ihm ins Wort.
»Genau«, sagt er. Hat alles organisiert. Der neue Tagesablauf ist
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